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Russland

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„VOM Aufgang der Sonne selbst bis zu ihrem Untergang wird mein Name groß sein unter den Nationen“ (Mal. 1:11). Diese grandiose Voraussage, die Jehova vor rund 2 450 Jahren machte, bewahrheitet sich heute vor unseren Augen in Russland. Während die Sonne im Westen bei seinen treuen Zeugen in Kaliningrad am Horizont versinkt, geht sie an der östlichsten der 11 Zeitzonen in Höhe der Beringstraße gegenüber von Alaska bei den Verkündigern auf der Tschuktschenhalbinsel bereits wieder auf. So scheint über der Predigttätigkeit und dem Werk des Jüngermachens in Russland tatsächlich immer die Sonne. Die Ausdauer unserer mutigen Brüder und Schwestern in der Sowjetära ist sehr belohnt worden. Wie diese Erzählung zeigen wird, hat ihr Standhalten trotz brutaler Verfolgung dazu beigetragen, dass in diesem Land heute über 150 000 Menschen Jehova dienen.

Der amtliche Name „Russische Föderation“ deutet schon darauf hin, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist — ein riesiges Mosaik aus den verschiedensten Völkern, Religionen, Sprachen und ihren jeweiligen Kulturen. Hier tauchen wir mit unserer Erzählung jetzt ein, wobei wir nicht im demokratischen Russland von heute beginnen, sondern im Zarenreich vor über hundert Jahren.

GEISTLICHEN IN MOSKAU WIRD MUTIG GEPREDIGT

Damals war das Interesse an Religion erneut erwacht. Auch Semjon Koslizkij war tiefreligiös und hatte ein russisch-orthodoxes Priesterseminar absolviert. Er lernte eines Tages Charles Taze Russell kennen, der seinerzeit das Werk der Bibelforscher leitete (wie Jehovas Zeugen damals hießen). Semjons Enkelin, Nina Luppo, schilderte seine Geschichte: „Großvater reiste 1891 in die Vereinigten Staaten und lernte dort Bruder Russell kennen. Zum Andenken daran hatte er ein Bild von sich und Bruder Russell; und er erzählte immer von seinem Bruder Russell.“ Ende des 19. Jahrhunderts verfochten Bruder Russell und seine Gefährten allen voran die kraftvollen Wahrheiten der Bibel und die richtige Gottesanbetung. Dazu gehörte, die falschen Lehren der Kirchen der Christenheit und der Geistlichkeit aufzudecken. Die biblische Wahrheit und der Eifer Bruder Russells und seiner Gefährten motivierten Semjon dazu, der Geistlichkeit in Moskau mutig zu predigen. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen.

„Man deportierte ihn unverzüglich und ohne Gerichtsurteil in Ketten nach Sibirien, weil er angeblich den Metropoliten von Moskau beleidigt hatte. Und so kam das Wort Gottes 1891 nach Sibirien“, schrieb Nina. Etwas später wurde Semjon in eine Region Sibiriens versetzt, die heute zu Kasachstan zählt, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1935 voller Eifer das Wort Gottes predigte.

„KEINE ... BEREITSCHAFT FÜR DIE WAHRHEIT“

In dem Jahr, in dem Semjon verbannt wurde, kam Bruder Russell das erste Mal nach Russland. Sein Fazit aus dieser Reise wurde schon oft zitiert: „In Russland beobachteten wir keine Öffnung oder Bereitschaft für die Wahrheit“. Meinte er damit, dass die Menschen die Wahrheit nicht hören wollten? Nein, sondern dass das autokratische Regime sie daran hinderte.

Ausführlicher erklärte er dies in Zions Wacht-Turm vom 1. März 1892 (Englisch): „Die Regierung in Russland hält jeden einzelnen Bewohner des Reiches im eisernen Griff und begegnet jedem Fremden, der ihren Boden betritt, mit Misstrauen. Vor der Einreise in eine Stadt oder einen Ort (und auch bei der Ausreise) muss man am Bahnhof und im Hotel stets die Ausweispapiere vorzeigen. Der Hotelbesitzer nimmt die Papiere des Gastes entgegen und übergibt sie dem Leiter der Polizeibehörde, der sie bis zur Abreise aufbewahrt. So lässt sich die Spur eines Fremden, der ins Land einreist oder wieder ausreist, jederzeit verfolgen. Die Beamten und Behörden sind äußerst förmlich und geben damit zu verstehen, dass unsere Anwesenheit lediglich geduldet ist; alle Bücher oder Unterlagen, die man mit sich führt, werden genau untersucht, ob sie auch nichts beinhalten, was ihnen ungelegen ist.“

Man könnte meinen, dass es mit dem Predigen der guten Botschaft unter solchen Umständen wohl kaum vorangehen konnte. Doch die Saat der Wahrheit keimte schon und das Wachstum in Russland war nicht mehr aufzuhalten.

DER „TAG KLEINER DINGE“ BRICHT AN

Bereits 1887 hieß es in einer englischen Ausgabe von Zions Wacht-Turm, die Zeitschrift werde „sogar nach Russland“ verschickt. 1904 schrieb eine kleine Gruppe Bibelforscher aus Russland, sie habe biblische Literatur erhalten, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten. In dem Brief stand: „Die Schriften ... waren sehr auffallend und wären fast nicht durch [die Zensur] gelassen worden“. Ihre Dankbarkeit für die Literatur war groß: „Die Schriften [sind hier] Goldes wert ..., weil sie so schwer zu bekommen sind.“ Sie verstanden auch, wofür die Veröffentlichungen gedacht waren: „Der Herr gebe nun seinen Segen und Gelegenheit, sie zu verbreiten“.

Das Predigen der guten Botschaft und die wahre Anbetung hatten somit in Russland tatsächlich Fuß gefasst; die ersten kleinen, aber bedeutsamen Schritte waren getan. Es war ein kleiner Anfang, doch schon im Propheten Sacharja steht ja zu lesen: „Wer hat den Tag kleiner Dinge verachtet?“ (4:10).

In den Jahren danach schickten eifrige Brüder aus Deutschland Literatur nach Russland — zumeist in Deutsch, und viele Deutschsprachige nahmen die Wahrheit an. 1907 erhielten Mitglieder einer deutschen Baptistengemeinde per Post Bücher aus der Reihe Millennium-Tagesanbruch. 15 von ihnen entschieden sich für die Wahrheit und wurden aus ihrer Gemeinde ausgeschlossen. Ihr Prediger, der sich anfangs dagegengestellt hatte, überzeugte sich später ebenfalls von der Wahrheit in den Tagesanbruch-Bänden.

1911 erhielt das Werk schließlich auf ganz ungewöhnliche Weise zusätzlichen Schwung: durch eine Hochzeitsreise. Ein junges Paar aus Deutschland namens Herkendell verbrachte seine Flitterwochen in Russland, um dort Deutschsprachige zu besuchen. Zu ihrer großen Freude stießen die beiden dabei auf isolierte Verkündigergruppen, denen sie weiterhelfen konnten.

Schon einige Zeit zuvor hatte ein Leser aus Russland geschrieben: „Diese Schriften aus Deutschland sind mir so viel wert, wie den Kindern Israel das Manna aus dem Himmel. ... Viele[n] tut es ... leid, dass die Schriften nicht in russischer Sprache geschrieben sind, und ich benutze jede Gelegenheit, um ihnen Verschiedenes ins Russische zu übersetzen.“ Doch das sollten nur die ersten Gehversuche im Übersetzen sein!

„VIELE SEELEN DÜRSTEN NACH GOTT“

1911 veranlasste Bruder Oleszynski im polnischen Warschau (damals Teil des Russischen Reichs) den Druck des Traktats Wo sind die Toten? in Russisch. Er schrieb an Bruder Russell: „Anbei ein Musterexemplar. ... 10 000 Exemplare kosteten 73 Rubel. ... Es gibt zahlreiche Schwierigkeiten, doch viele Seelen dürsten nach Gott.“ Diese Traktate wurden zusammen mit weiteren Veröffentlichungen an Russischsprachige weitergegeben, die sie nach Russland mitnahmen. Das bedeutete für das gerade auf die Beine gestellte Predigtwerk in dieser Sprache einen großen Sprung. Weitere Traktate und Broschüren folgten. Mit der Zeit wagte man sich an noch größere Übersetzungsprojekte heran.

1912 reiste Bruder Russell nach Finnland, das damals ebenfalls zum Russischen Reich gehörte. Kaarlo Harteva wurde bevollmächtigt, die Watch Tower Bible and Tract Society in Finnland zu vertreten. Die Vollmacht wurde am 25. September 1913 vom Vertreter des Zaren, dem Russischen Kaiserlichen Konsul in New York, mit einer Gebührenmarke versehen und unterzeichnet.

ZWEIMONATIGE PREDIGTREISE „ZWANGSVERLÄNGERT“

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg unternahm Joseph F. Rutherford als Vertreter der Organisation von Brooklyn aus eine Reise durch einige Länder. Dabei lernte er in Lodz (Polen) Bruder Deutschmann kennen, der sich kurz danach mit seiner Familie auf eine zweimonatige Predigtreise durch Russland begab. So war es zumindest geplant gewesen, aber dann brach der Krieg aus und ihre Reise wurde „zwangsverlängert“.

Die Familie durchlebte eine schlimme Zeit und landete schließlich in einem kleinen Ort an der Wolga. 1918 wollten sie nach Polen zurückkehren, doch eine Pockenepidemie durchkreuzte ihre Pläne. Danach brach der Bürgerkrieg aus und die Landesgrenzen wurden geschlossen. In jenen Jahren starben drei Kinder der Familie, unter anderem an Pocken und Lungenentzündung.

Überall herrschten Hunger und Panik. Die Menschen starben vor Hunger auf offener Straße. In dem Chaos wurden viele — vor allem Ausländer — beschuldigt, für den „Feind“ tätig zu sein, und kurzerhand hingerichtet. Eines Tages stürmte ein Mann mit einem bewaffneten Soldaten bei Familie Deutschmann herein.

„Der gehört zum Feind, schnappen Sie ihn sich!“, schrie er.

„Warum?“, fragte der Soldat. „Was hat er getan?“

In Wirklichkeit wollte der Mann bloß nichts für Bruder Deutschmanns Tischlerarbeiten zahlen. Der Soldat hörte sich jedoch beide Seiten an, durchschaute den Mann und warf ihn hinaus. Anschließend sagte er zu Bruder Deutschmann, er denke noch gern an ihr nettes Gespräch über die Bibel zurück. Nicht zuletzt diesem Gespräch verdankte Familie Deutschmann wahrscheinlich ihr Leben. 1921 schlug die kommunistische Regierung den militärischen Widerstand nieder. Damit war der Bürgerkrieg vorbei und Familie Deutschmann konnte sich auf den Heimweg nach Polen machen.

BIBELFORSCHER UND BOLSCHEWIKI

In den Wirren des Ersten Weltkriegs brach der wenige Kontakt zu den Brüdern in Russland ab. Und wie die Brüder Christi in anderen Ländern waren wohl auch sie sich über die volle Tragweite der Thronbesteigung Christi nicht ganz im Klaren. Sie ahnten nicht, dass sich in ihrem Land bald einige der markantesten Ereignisse des 20. Jahrhunderts abspielen würden, die so manche biblische Prophezeiung erfüllten.

Im Herbst des Jahres 1917 setzte die Russische Revolution der 370 Jahre langen Zarenherrschaft ein Ende. Die Gegenwart des Herrn Jesus Christus blieb von den neuen Machthabern, den Bolschewiki, unbeachtet; sie hatten den ehrgeizigen Plan, eine völlig neuartige Regierungsform einzuführen. So entstand nach einigen Jahren die UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), die schließlich nahezu ein Sechstel der Landmasse der Erde umfasste.

Nur wenige Jahre vor der Russischen Revolution hatte Wladimir Iljitsch Lenin, der dann an der Spitze der Sowjetunion stand, interessanterweise gesagt: „Jeder muss die volle Freiheit haben, sich nicht nur zu jedem beliebigen Glauben zu bekennen, sondern auch jeden beliebigen Glauben zu verbreiten und den Glauben zu wechseln. Kein Beamter darf auch nur das Recht haben, irgendwen nach seinem Glauben zu fragen: das ist Sache des Gewissens, und niemand darf sich da einmischen.“

Dank dieser offiziellen Haltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei waren in einigen Teilen des Landes ernsthafte Gespräche über die Bibel möglich. Im Allgemeinen war die neue Regierung jedoch von Anfang an atheistisch und religionsfeindlich. Religion galt als „Opium für das Volk“. Zu den ersten Amtshandlungen der Bolschewiki gehörte die Trennung von Kirche und Staat. Das Kirchenvermögen wurde verstaatlicht, der Religionsunterricht verboten.

Wie würde die neue Regierung zu den verstreuten Bibelforschergruppen stehen, deren Treue dem Königreich Gottes galt? In einem Brief zeichnete ein Bibelforscher aus Sibirien einige Zeit nach 1917 folgendes düstere Bild: „Wie die Verhältnisse hier in Russland sind, wird ... wohl bekannt sein. Wir haben hier eine Räteregierung mit dem Kommunismus als Grundlage. Es ist zwar ein gewisses Steuern zur Gerechtigkeit zu vermerken; jedoch wird alles Göttliche über Bord geworfen.“

Bis 1923 hatte die Regierung immer mehr Front gegen die Bibelforscher gemacht. Die Brüder schrieben: „Dieser Brief ist zu dem Zweck geschrieben, Euch davon zu benachrichtigen, was in Russland vor sich geht. ... Gegenwärtig haben wir die notwendigen Dinge, Nahrung, Kleidung ..., aber wir leiden bittere Not an geistiger Speise. Die Bücher, die uns zugesandt wurden, sind von der Regierung beschlagnahmt worden. Somit bitten wir Euch, uns in brieflicher Form Auszüge aller Literatur zu schicken, die Ihr in der russischen Sprache habt ... Gegenwärtig hungern viele nach dem Worte der Wahrheit. Vor nicht langer Zeit bezeugten fünf Personen ihre Weihung durch die Wassertaufe, und fünfzehn Baptisten haben sich uns auch angeschlossen.“

Im Wacht-Turm vom 15. Februar 1924 hieß es dazu: „Die Gesellschaft macht einen Versuch, Bücher und Schriften nach Russland hineinzubringen, und wird durch die Gnade des Herrn damit fortfahren.“ Ab 1925 gab es den Wacht-Turm dann auch in Russisch — mit Sofortwirkung auf das Predigtwerk im Land. Ein Beispiel: Ein Mann in einer evangelikalen Gruppe hatte Mühe, sich vorzustellen, dass die Lehre von der Feuerhölle zu einem Gott der Liebe passt. Als er die anderen in der Gruppe dazu befragte, beteten sie, Gott möge ihn doch von solchen Gedanken befreien. Dann erhielten er und seine Frau einige Ausgaben des Wacht-Turms. Ihnen war sofort klar, dass das die Wahrheit war. Er bat um mehr Lesestoff und schrieb: „Wir warten auf das Manna aus Übersee.“ Auch viele weitere Brüder in Russland bestätigten immer wieder den Empfang dieser Art „Manna“ und dankten den Brüdern in den Vereinigten Staaten dafür, dass sie die glaubensstärkende Literatur mit so viel Liebe herstellten.

„SCHICKEN SIE UNS BITTE VON ALLEM ETWAS“

Ein rührender Brief aus Sibirien wurde im Wacht-Turm vom 15. Juni 1925 und im September auch in der russischen Ausgabe abgedruckt. Er stammte von einem Lehrer aus einer Bauernfamilie, der 1909 mit seiner Familie von Südrussland nach Sibirien gezogen war und die Veröffentlichungen mit tief empfundener Freude las. Er schrieb: „Da war das Verlangen meines Herzens, noch tiefer in die Heilswahrheiten Gottes eingeführt zu werden, um tüchtig gemacht zu werden, den Kampf gegen die Finsternis aufzunehmen.“ Zum Schluss bat er um mehr Literatur und meinte: „Schicken Sie uns bitte von allem etwas“.

Die Redaktion merkte dazu an: „Die Gesellschaft versucht schon seit langer Zeit, Literatur nach Russland hineinzubekommen, doch scheiterte alles an dem Widerstand der russischen Regierung ... Dieser Brief und ähnliche, uns oft erreichende, klingt wie der Ruf aus Mazedonien — Apostelgeschichte 16:9: ‘Kommt herüber und helft uns!’ Wir kommen, wenn es irgend möglich ist und der Herr es will.“

So sollten sich der Wachtturm und andere Veröffentlichungen beim Predigen der guten Botschaft „zu einem Zeugnis“ in Russisch wirklich bewähren und tief greifende Wirkung zeigen! (Mat. 24:14). Bis zum Jahr 2006 wurden in Russisch 691 243 952 Exemplare der verschiedensten Publikationen gedruckt! Nur in Englisch, Portugiesisch und Spanisch waren es noch mehr. Jehova hat die Anstrengungen seiner Zeugen, das Königreich zu verkünden, voll und ganz gesegnet.

RUSSEN IM AUSLAND PREDIGEN

Nach der Machtübernahme der Bolschewiki und der Entstehung des kommunistischen Staats wanderten viele Russen aus. Da der Wacht-Turm und sonstige Publikationen in Russisch nicht in der Sowjetunion gedruckt wurden, konnte die Sowjetregierung die Versorgung mit geistiger Speise außerhalb ihrer Landesgrenzen nicht unterbinden. So gingen Ende der 1920er-Jahre russische Publikationen in viele Winkel der Erde. Aus Australien, Finnland, Frankreich, Lettland, Paraguay, Polen, Uruguay und den Vereinigten Staaten kamen Dankesbriefe.

In einigen der Länder predigten die Brüder systematisch in Russisch und hielten auch in Russisch Zusammenkünfte ab. In den Vereinigten Staaten strahlte der Rundfunk regelmäßig russische Bibelvorträge aus. Es wurden russischsprachige Versammlungen gegründet, beispielsweise im pennsylvanischen Brownsville, und Kongresse abgehalten — wie zum Beispiel ein dreitägiger Kongress im Mai 1925 in Carnegie (ebenfalls Pennsylvanien), bei dem 250 Personen anwesend waren und sich 29 taufen ließen.

DIE SITUATION VERÄNDERT SICH

Nach Lenins Tod verstärkte sich der Kampf gegen die Religion. 1926 wurde der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ gegründet — allein der Name sagt schon alles über seine Ziele. Das Land wurde mit atheistischer Propaganda überschwemmt, um den Glauben an Gott aus Herz und Sinn der Menschen mit Stumpf und Stiel auszureißen. In kürzester Zeit war das riesige Sowjetreich vom Atheismus durchdrungen. Ein Bibelforscher schrieb an das Hauptbüro: „Die Jugend nimmt einen Geist auf, der ihnen zur Erkenntnis der Wahrheit sehr hinderlich sein wird.“

Der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ veröffentlichte antireligiöse Literatur wie die Zeitschrift Antireligiosnik. Dort konnte man 1928 lesen: „Oblast * Woronesch wimmelt von Sekten“. Erwähnt wurden unter anderem 48 „Erforscher der Heiligen Schrift“ und deren „Leiter Sintschenko und Mitrofan Bowin“. Interessanterweise war im russischen Wacht-Turm von September 1926 ein Brief von einem gewissen Michail Sintschenko aus Russland abgedruckt. Er hatte damals geschrieben: „Die Menschen hungern nach geistiger Speise. ... Wir haben sehr wenig Literatur. Bruder Trümpy und andere übersetzen die Literatur ins Russische und schreiben sie ab. Auf diese Weise stärken und stützen wir uns. Liebe Grüße von allen unseren russischen Geschwistern.“

Im selben Monat schrieb Bruder Trümpy, es bestehe Hoffnung, dass die Einfuhr russischer Literatur genehmigt würde. Er bat die Brüder im Brooklyner Bethel, über das Büro in Magdeburg Traktate, Broschüren, Bücher und Wacht-Turm-Jahrgänge zu senden. Bruder Rutherford schickte daraufhin George Young nach Moskau. Er traf am 28. August 1928 ein und schrieb: „Ich habe Interessantes erlebt, weiß aber nicht, wie lange ich bleiben kann.“ Ihm gelang zwar ein Treffen mit einem hochrangigen Beamten in Moskau, doch leider lief sein Visum am 4. Oktober 1928 ab.

Unterdessen war nicht ganz klar, wie der neu gegründete Sowjetstaat zur Religion wirklich stand. Aus Arbeitspapieren der Regierung konnte man die Absicht herauslesen, religiöse Gruppen in die Arbeiterklasse einzugliedern. Im Lauf der Jahre kristallisierte sich das als Regierungspolitik heraus. Man muss wissen, dass die Sowjetregierung Jehovas Diener nicht auslöschen wollte. Sie führte vielmehr einen Kampf um Herz und Sinn. Sie wollte Gottes Diener dazu bringen, mit ihr konform zu gehen, und sie zur bedingungslosen Staatstreue zwingen. Dass sie Jehova die Treue hielten, war das Letzte, was die Regierung gebrauchen konnte.

Nach Bruder Youngs Abreise predigten die Brüder in Russland Gottes Königreich eifrig weiter. Daniil Staruchin wurde beauftragt, das Predigtwerk dort zu organisieren. Aus diesem Grund und um den Brüdern Mut zu machen reiste er nach Moskau, Kursk, Woronesch und in weitere Städte Russlands und der Ukraine. Mit anderen Brüdern zusammen predigte er den Baptisten in ihren Gebetshäusern die Wahrheit über Jesus Christus und Gottes Königreich. Im Januar 1929 mieteten die Brüder in Kursk für damals umgerechnet 200 Dollar im Jahr eine Kirche für öffentliche Zusammenkünfte.

Noch im selben Jahr beantragte das Brooklyner Bethel beim sowjetischen Volkskomissariat für Handel eine Einfuhrgenehmigung für eine kleine Lieferung Literatur. Sie bestand aus je 800 Exemplaren der Bücher Die Harfe Gottes und Befreiung, dazu 2 400 Broschüren. Nach knapp zwei Monaten kam die Lieferung zurück mit dem Vermerk: „Einfuhr verboten! Hauptverwaltung für Schrifttum“. Die Brüder ließen sich jedoch nicht entmutigen. Manche dachten, es habe daran gelegen, dass in den Publikationen das alte russische Alphabet benutzt wurde. Von da an gaben die Brüder acht, dass alles richtig übersetzt und sprachlich auf dem neuesten Stand war.

GUTE ÜBERSETZUNGEN NÖTIG

Ab 1929 erschienen in den Zeitschriften (wie zum Beispiel im russischen Wacht-Turm von März 1930) mehrmals Anzeigen für qualifizierte Übersetzer, die gut Englisch und Russisch konnten: „Für Übersetzungen vom Englischen ins Russische benötigen wir einen befähigten, gottgeweihten Bruder, der des Englischen mächtig ist und fließend Russisch spricht.“

Jehova sah, dass Not am Mann war, und in mehreren Ländern wurden Übersetzer ausfindig gemacht. Zum Beispiel Aleksandr Forstman: Er lebte in Lettland und hatte bereits 1931 über das dänische Zweigbüro in Kopenhagen übersetzte Artikel ans Hauptbüro geschickt. Dieser gebildete, fließend Russisch und Englisch sprechende Bruder war Übersetzer mit Leib und Seele und ein schneller dazu. Da er Frau und Kind zu versorgen hatte und seine Frau nicht in der Wahrheit war, konnte er anfangs nur wenige Stunden in der Woche an den Übersetzungen arbeiten. Doch ab Dezember 1932 war es ihm möglich, sich ganz darauf zu konzentrieren und viele Traktate, Broschüren und Bücher zu übersetzen. Er starb 1942.

Den Brüdern lagen gute russische Übersetzungen sehr am Herzen, denn sie gingen davon aus, dass das Königreichswerk in Russland bald gesetzlich erlaubt sein würde. William Dey, der die Aufsicht über das nordeuropäische Büro hatte, schrieb an Bruder Rutherford: „Wenn sich Russland öffnet, was bestimmt in Kürze passiert, wäre es gut, den 180 Millionen Menschen im Land hochwertige Übersetzungen unserer Literatur in die Hände legen zu können.“

RADIOSENDUNGEN

Die gute Botschaft konnte noch auf einem anderen Weg ins weite Russland getragen werden: über den Rundfunk. So kündigte der russische Wacht-Turm von Februar 1929 an: „In Zukunft werden im Rundfunk russische Vorträge übertragen.“ Die Vorträge wurden jeden zweiten und vierten Sonntag von Estland aus in die Sowjetunion ausgestrahlt.

Bruder Wallace Baxter, der Zweigaufseher von Estland, erzählte rückblickend: „Nach langem Hin und Her wurde 1929 ein Jahresvertrag unterschrieben. Kurz nach Beginn der Ausstrahlungen in Russisch hörten wir, dass die Sendungen in Leningrad gehört wurden. Das Sowjetregime reagierte genauso wie die Geistlichkeit in Estland und warnte die Leute davor, sich die Königreichsbotschaft anzuhören.“ 1931 wurden die russischen Vorträge auf Mittelwelle von 17.30 Uhr bis 18.30 Uhr ausgestrahlt — eine gute Sendezeit. Doch dreieinhalb Jahre später, im Juni 1934, kam ein Sendeverbot. Das estnische Zweigbüro erklärte in einem Brief, was dahintersteckte: „Die Kleriker haben der Regierung [in Estland] eingeredet, unsere Sendungen seien nicht im Staatsinteresse, sondern kommunistischer und anarchistischer Natur.“

GRENZVERSCHIEBUNGEN

1935 schickte das Brooklyner Bethel Anton Koerber in die Sowjetunion in der Hoffnung, er könne ein Zweigbüro eröffnen und aus Deutschland (wo Hitler unlängst zur Macht gekommen war) eine Druckmaschine herbringen lassen. Aus alldem wurde zwar nichts, aber dafür konnte Bruder Koerber mit etlichen Brüdern zusammenkommen.

Einige Jahre lang ging es mit dem Predigtwerk gut voran. Das lettische Zweigbüro organisierte die Übersetzung ins Russische. Es war jedoch schwierig, Publikationen ins Land hineinzubekommen, und darum wurden große Mengen Literatur gelagert.

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 gab es in der Sowjetunion nur wenige Zeugen. Deswegen nahm die Regierung von ihnen nicht groß Notiz. Doch das sollte sich nun ändern. Kurz nach dem Einmarsch Hitlerdeutschlands in Polen verleibte sich die Sowjetunion ihre letzten vier Republiken ein: Estland, Lettland, Litauen und Moldawien. Damit lebten auf einmal Tausende von Zeugen Jehovas innerhalb der Sowjetunion — einem Land, das schon bald in einem barbarischen Krieg um das eigene Überleben kämpfen würde. Vor Millionen Menschen lag eine Zeit voller Leid und Härten. Vor Jehovas Zeugen lag eine Zeit der Bewährung für ihre Treue gegenüber Gott trotz brutalster Unterdrückung.

FEST ENTSCHLOSSEN, STANDZUHALTEN

Im Juni 1941 startete Deutschland einen Großangriff auf die Sowjetunion, womit ihr Führer Stalin nicht gerechnet hatte. Bereits Ende des Jahres standen deutsche Truppen in den Außenbezirken Moskaus. Der Fall der Sowjetunion schien unvermeidlich.

In höchster Not versuchte Stalin, die Nation für den sogenannten Großen Vaterländischen Krieg zu mobilisieren. Da Millionen Menschen nach wie vor religiös waren, wurde ihm bewusst, dass er der Kirche Zugeständnisse machen musste, wenn er diese Menschen für die Kriegsanstrengungen gewinnen wollte. Daher empfing er im September 1943 die drei ranghöchsten Kirchenoberen der russisch-orthodoxen Kirche im Kreml. Die Kluft zwischen Kirche und Staat wurde überbrückt. Hunderte von Kirchen wurden wieder geöffnet.

Die Brüder in Russland bewahrten genauso wie Jehovas Zeugen in Deutschland in allem die Neutralität. Sie waren bereit, dafür die Folgen zu tragen, fest entschlossen, sich an das Gebot ihres Herrn zu halten (Mat. 22:37-39). Wegen ihrer Neutralität kamen über 1 000 Zeugen aus der Ukraine, Moldawien und den baltischen Republiken zwischen 1940 und 1945 in verschiedene Arbeitslager nach Russland.

Wassilij Sawtschuk erzählte: „Ich habe mich 1941 mit 14 in der Ukraine taufen lassen. Im Laufe des Krieges hatte man fast alle aktiven Brüder in Gefängnisse oder Lager im Inneren Russlands gesteckt. Aber Jehovas Werk war nicht aufzuhalten. Treue Schwestern und Jugendliche wie ich haben die Arbeit in der Versammlung fortgesetzt und weiter gepredigt. Einen Bruder aus unserem Dorf hatten sie noch nicht geholt, weil er Invalide war. Er sagte zu mir: ‚Wassilij, wir brauchen dich. Wir haben ein wichtiges Werk zu tun und nicht genügend Männer.‘ Mir traten Tränen in die Augen, weil diesem kranken Bruder so viel an Jehovas Werk gelegen war. Ich wollte gern alles tun, was nötig war. Wir stellten in verschiedenen Kellern behelfsmäßige Druckmaschinen auf und vervielfältigten dort unsere kostbare geistige Speise, damit sie an alle und vor allem an die inhaftierten Brüder verteilt werden konnte.“

Trotz der selbstlosen, liebevollen Arbeit der Schwestern und Jugendlichen reichte die geistige Speise bei Weitem nicht aus. Über polnische Brüder, die nach Polen zurückgingen, gelangten jedoch Berichte aus Russland ins dortige Büro. Dafür brachten ukrainische und russische Brüder, die aus Polen zurückkehrten, geistige Speise, Wachsmatrizen, Tinte und sonstiges Material mit.

„SIE MÖGEN JEDER AN SEINEN ORT GEHEN“

1946 wurden einige Brüder in Polen in die Sowjetukraine zwangsumgesiedelt. Iwan Paschkowskij erinnerte sich später: „Die Brüder fragten im Zweigbüro in Lodz an, was sie tun sollten. Als Antwort verwies man sie auf Richter 7:7, wo es heißt: ‚Sie mögen jeder an seinen Ort gehen.‘ Viele Jahre später ist mir aufgegangen, dass Jehova in seiner Weisheit so für das Predigtwerk in diesen schwierigen Gebieten vorgesorgt hatte. Unser ‚Ort‘ war da, wo Jehova uns hinsenden würde. Uns wurde klar, dass wir dazu den Anweisungen der Behörden folgen mussten. Also wappneten wir uns für den Umzug in ein atheistisches Land.

Als Erstes bereiteten wir im Haus eines Bruders 18 angehende Brüder auf die Taufe vor. Dann besorgten wir uns weitere Schriften in Russisch und Ukrainisch und versteckten sie in unseren übrigen Sachen, falls wir durchsucht würden. Frühmorgens war unser Dorf schließlich von polnischen Soldaten umstellt, die uns abholten. Wir durften Lebensmittel für einen Monat und die wichtigsten Haushaltsutensilien mitnehmen. Dann eskortierten sie uns zum Bahnhof. Auf diese Weise ist die Sowjetukraine unser ‚Ort‘ geworden.

Bei unserer Ankunft waren wir sofort von vielen Leuten und Behördenvertretern umringt. Wir hatten uns vorgenommen, sofort mit dem Predigen anzufangen, und sagten allen gleich beherzt, dass wir Zeugen Jehovas sind. Am nächsten Tag kam plötzlich der Sekretär des zuständigen Komitees für Landwirtschaft bei uns vorbei. Er erzählte uns, dass sein Vater nach Amerika ausgewandert war und ihm immer Literatur von Jehovas Zeugen schickte. Na, das war eine Freude! Vor allem, weil er uns auch noch welche mitgebracht hatte. Später kam er mit seiner Familie in die Zusammenkünfte. Da ist uns bewusst geworden, dass Jehova in diesem Land viele ‘begehrenswerte Dinge’ hat (Hag. 2:7). Die ganze Familie ist in die Wahrheit gekommen und hat Jehova viele Jahre lang treu gedient.“

VIEL ZU TUN

Im Zweiten Weltkrieg und danach waren die Bedingungen für das Werk extrem schwierig. In einem Brief vom 10. April 1947 berichtete das polnische Zweigbüro dem Hauptbüro: „Die Geistlichen sagen ihren Gemeindemitgliedern, wer sich ein Traktat oder einen Wachtturm von Jehovas Zeugen geben lasse, liefe Gefahr, sich 10 Jahre Zwangsarbeit und Verbannung einzuhandeln, und setzen sie damit unter Druck. Die Einwohner sind eingeschüchtert und voller Angst, aber sie sehnen sich nach dem Licht.“

Im Jahrbuch 1947 hieß es: „Den Geschwistern steht keine gedruckte Literatur und auch nicht der Wachtturm in der schönen gedruckten Form zur Verfügung. ... In vielen Fällen wird er auch jetzt noch ... mit der Hand abgeschrieben und weitergegeben. Die Kuriere der Versammlungen werden mitunter abgefasst und eingesteckt, wenn bei ihnen der Wachtturm vorgefunden wird.“

Regina Kriwokulskaja erzählte über die Zeit: „Ich hatte das Gefühl, das ganze Land war hinter Stacheldraht und wir waren Gefangene, obwohl wir nicht im Gefängnis saßen. Unsere Männer, die sich eifrig für Gott einsetzten, mussten die meisten Jahre ihres Lebens in Gefängnissen und Lagern zubringen. Auch für uns Frauen war es nicht leicht. Jede hatte schlaflose Nächte, wurde von der Geheimpolizei überwacht und unter Druck gesetzt, verlor die Arbeit und musste auch sonst viel durchstehen. Man versuchte alles Mögliche, um uns vom Weg der Wahrheit abzubringen (Jes. 30:21). Uns war klar, dass Satan die Situation nutzen wollte, um das Königreichswerk lahmzulegen. Aber Jehova hat sein Volk nicht im Stich gelassen — seine Hilfe war deutlich zu spüren.

Die mühevoll ins Land geschleuste Literatur hat uns ‘Kraft über das Normale hinaus’ gegeben und uns geholfen, umsichtig zu sein (2. Kor. 4:7). Jehova hat sein Volk geführt. Und trotz des starken Widerstands der Regierung sind viele Neue dazugekommen. Es war erstaunlich, dass sie von Anfang an bereit waren, mit Jehovas Volk zusammen Schlimmes durchzumachen. Das konnte nur der Geist Jehovas bewirken.“

„WURFSENDUNGEN“ ÜBER DEN ZAUN

Reginas Zukünftiger, Pjotr, kam wegen seiner Neutralität 1944 in ein Lager in der Oblast Gorki. Seinen Predigteifer dämpfte das allerdings in keiner Weise. Er schrieb kurze Briefe zu biblischen Themen, steckte sie in einen Umschlag, band ihn an einem Stein fest und warf diesen dann über den hohen Stacheldrahtzaun, in der Hoffnung, jemand würde die Briefe finden. Dieser Jemand war Lidija Bulatowa. Als Pjotr sie sah, rief er sie leise zu sich und fragte sie, ob sie gern mehr über die Bibel erfahren würde. Es interessierte sie und so vereinbarten sie ein weiteres Treffen. Von da an kam Lidija regelmäßig vorbei, um Pjotrs kostbare Briefe aufzusammeln.

Sie wurde eine eifrige Schwester und Predigerin der guten Botschaft. Bald hatte sie selbst Bibelstudien — mit Marija Smirnowa und Olga Sewrjugina. Auch sie kamen in die Wahrheit. Um die kleine Gruppe Schwestern zu unterstützen, versorgten die Brüder sie aus dem Lager heraus (!) mit geistiger Speise. Dazu versah Pjotr einen kleinen Koffer mit einem doppelten Boden als Versteck für Zeitschriften. Den Koffer brachten verschiedene Leute, die weder Zeugen noch Lagerinsassen waren, zu einer der Schwestern nach Hause und wieder zurück.

Die Schwestern predigten nach kurzer Zeit systematisch in der Region. Das blieb nicht unbemerkt, und die Polizei schleuste, wie damals üblich, einen Spitzel ein. Die Frau, eine Lehrerin, täuschte Interesse vor und gewann das Vertrauen der Schwestern. In ihrer Unbedarftheit erzählten sie ihrer neuen „Schwester“ nur zu gern von den biblischen Wahrheiten und wie sie an die Literatur herankamen. Als der Koffer das nächste Mal unterwegs war, bekam Pjotr Lagerarrest und wurde zu weiteren 25 Jahren Haft verurteilt. Auch die drei Schwestern bekamen je 25 Jahre.

DRINGEND AUFKLÄRUNG NÖTIG

Im Krieg und in den Nachkriegsjahren setzte die Sowjetregierung ihren harten Kurs gegen Jehovas Zeugen fort. Im März 1947 berichteten die Brüder aus Polen, ein hochrangiger Funktionär aus einem der westlichen Teile der Sowjetunion hätte gesagt, dass es dort bis Ende des Frühjahrs keinen einzigen Zeugen Jehovas mehr geben würde. Sie schrieben: „Und gerade eben haben wir erfahren, dass an einem einzigen Tag 100 Brüder und Schwestern verhaftet wurden.“ In einem anderen Brief las man über die Brüder in den Lagern: „Sie halten auf bewundernswerte Weise an Jehova fest. Viele haben bereits ihr Leben gelassen, und die Geschwister warten auf die Befreiung Jehovas, wie es die Geschwister in den Konzentrationslagern getan haben.“

Unter anderem verhaftete man die Zeugen, weil sie predigten und nicht wählten. Die Brüder, die damals die Leitung innehatten, schrieben: „Wir haben den Eindruck, dass man an höchster Stelle in Russland über das Los unserer Geschwister wenig weiß, aber nicht daran interessiert ist, sie auszulöschen. Was fehlt, sind nötige Erklärungen und dringende Aufklärung [der Regierung].“

BEMÜHUNGEN UM GESETZLICHE ANERKENNUNG

Das Zweigbüro in Polen empfahl deshalb, dass sich zwei russische Brüder zusammen mit einem erfahrenen Anwalt um die Registrierung unseres Werkes in der Sowjetunion bemühen sollten. Es schrieb an die Brüder in Russland: „Die gute Botschaft vom Königreich muss überall gehört werden, auch in Russland (Markus 13:10).“ Der Brief endete mit den Worten: „Habt Geduld. Jehova wird eure Tränen in Jubelrufe verwandeln (Psalm 126:2-6).“

Folglich beantragten Mykola Pjatocha, Michajlo Tschumak und Ilja Babijtschuk im August 1949 die Anerkennung. Die Regierung erklärte sich einverstanden, allerdings nur zu bestimmten Bedingungen. Zum Beispiel sollten die Brüder die Namen aller Zeugen Jehovas in der Sowjetunion preisgeben. Darauf ließen sich die Brüder natürlich nicht ein. Das Werk lief zwar weiter und die Verkündigerzahl stieg, aber viele Brüder wurden nach wie vor verhaftet.

„DEIN JEHOVA WIRD DICH HIER NICHT RAUSHOLEN“

Pjotr Kriwokulskij erzählte über den Sommer 1945: „Die Brüder kamen nach ihrer Verhandlung in verschiedene Lager. In meinem Lager waren viele an der Wahrheit interessiert. Einer von ihnen, ein Geistlicher, erfasste die Wahrheit schnell und stellte sich auf Jehovas Seite.

Das Lagerleben selbst war allerdings sehr hart. Einmal wurde ich in eine winzige Zelle gesteckt, in der man kaum stehen konnte. Man nannte sie das Wanzenhaus, weil es da von Bettwanzen nur so wimmelte. Es waren so viele, dass sie einem wahrscheinlich das ganze Blut aus den Adern hätten saugen können. Vor der Zelle stand der Aufseher und meinte zu mir: ‚Dein Jehova wird dich hier nicht rausholen.‘ Meine Tagesration bestand aus 300 Gramm Brot und einem Becher Wasser. In die Zelle kam keinerlei Luft. Nur in der kleinen Tür war ein winziger Riss. Ich lehnte mich dagegen und sog begierig die Luft ein. Gleichzeitig spürte ich, wie mich die Bettwanzen aussaugten. In den 10 Tagen im Wanzenhaus habe ich Jehova immer wieder gebeten, mir die Kraft zum Durchhalten zu geben (Jer. 15:15). Schließlich öffnete sich die Zellentür wieder und in dem Moment wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, war ich in einer anderen Zelle.

Danach wurde ich vom Lagergericht ‚wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda‘ zu 10 Jahren Straflager mit strengem Regime verurteilt. Dort durfte man keine Briefe erhalten oder versenden. In dem Lager saßen meist Schwerverbrecher ein wie Mörder. Man sagte mir, wenn ich meinem Glauben nicht abschwörte, würde man diese Leute auf mich hetzen. Ich wog gerade noch 36 Kilo und konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Doch sogar hier fand ich aufrichtige Menschen, deren Herz für die Wahrheit schlug.

Einmal legte ich mich ins Gebüsch, um zu beten, da kam ein älterer Mann zu mir und fragte: ‚Was hast du denn angestellt, dass du in dieser Hölle gelandet bist?‘ Als ich ihm sagte, ich sei ein Zeuge Jehovas, setzte er sich zu mir und drückte und küsste mich. Dann sagte er: ‚Mein Junge, wie lange möchte ich schon die Bibel kennenlernen! Würdest du mir dabei helfen?‘ Ich war außer mir vor Freude. Ich hatte einige zerfledderte Seiten aus den Evangelien in meine zerlumpte Kleidung eingenäht und holte sie sofort heraus. Ihm kamen die Tränen. Wir unterhielten uns an jenem Abend sehr lange. Er erzählte mir, dass er in der Lagerkantine arbeite und mich mit Essen versorgen würde. Wir wurden gute Freunde. Er kam zum Glauben und ich wieder zu Kräften. Für mich war es keine Frage, dass Jehova dafür gesorgt hatte. Er kam nach einigen Monaten frei und ich wurde in ein anderes Lager in der Oblast Gorki überführt.

Dort waren die Lebensbedingungen erheblich besser. Am meisten hat mich aber gefreut, dass ich mit vier Insassen die Bibel studieren konnte. 1952 wurden wir allerdings erwischt. Ich wurde vernommen und dabei in eine hermetisch verschlossene Kiste gesteckt. Fing ich an, nach Luft zu japsen, ging die Kiste kurz auf, damit ich etwas Luft bekam, dann klappte sie wieder zu. Ich sollte meinem Glauben abschwören. Wir wurden alle verurteilt. Als das Urteil verlesen wurde, geriet keiner von den vieren in Panik. Ich war darüber sehr froh! Alle vier wurden zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ich bekam eine noch härtere Strafe, die dann aber in 25 weitere Jahre Speziallager und 10 Jahre Verbannung umgewandelt wurde. Anschließend gingen wir aus dem Raum und bedankten uns erst einmal gemeinsam bei Jehova für seinen Beistand. Die Wärter wunderten sich, worüber wir so glücklich waren. Wir wurden voneinander getrennt und in verschiedene Lager gebracht. Ich kam ins Spezlager in Workuta.“

DIE CHRISTLICHE NEUTRALITÄT RETTET LEBEN

Das Lagerleben war brutal. Viele Nichtzeugen begingen Selbstmord. Iwan Krylow erzählte: „Nach meiner Zeit im Lager mit Sonderregime besuchte ich unsere Brüder und Schwestern, die in verschiedenen Kohlenbergwerken arbeiten mussten. Sobald es einem von ihnen gelang, einige Zeitschriften abzuschreiben, gab er die Abschriften an die anderen weiter. Die Zeugen predigten in jedem Lager. Viele Menschen waren interessiert und einige ließen sich nach ihrer Freilassung in der Workuta taufen.

Unser Glaube an Jehova und sein Königreich ist immer wieder auf eine Bewährungsprobe gestellt worden. 1948 organisierten Häftlinge in einem Lager von Workuta einen Aufstand. Den größten Erfolg hätte die Revolte, so meinten sie, wenn sich alle Häftlinge in Gruppen zusammentun würden, beispielsweise nach Nationalität oder Religionszugehörigkeit. Wir waren damals zu fünfzehnt im Lager und erklärten den Aufständischen, dass Jehovas Zeugen Christen seien und wir sie deshalb nicht dabei unterstützen könnten. Die ersten Christen hätten sich auch nicht an Revolten gegen die Römer beteiligt. Für viele war das natürlich befremdend, aber wir ließen uns nicht beirren.“

Der Aufstand endete tragisch. Die Soldaten schlugen die Revolte nieder, trieben die Rebellen in eine Baracke, übergossen diese mit Benzin und steckten sie in Brand. Fast alle kamen um. Doch den Brüdern wurde kein Haar gekrümmt.

„Im selben Jahr traf ich im Dezember in einem anderen Lager 8 Brüder, die 25 Jahre Haft bekommen hatten“, berichtete Iwan weiter. „Der Winter war bitterkalt und die Arbeit im Bergbau sehr hart. Doch in ihren Augen las ich Vertrauen und große Zuversicht. Ihre positive Grundhaltung gab sogar den anderen Häftlingen Kraft.“

VERBANNUNG NACH SIBIRIEN

Trotz der unmenschlichen Unterdrückung seitens der Behörden predigten die Zeugen die gute Botschaft von Jehovas Königreich unverdrossen weiter — sehr zum Ärger der Moskauer Zentralregierung und vor allem des MGB (Ministerium für Staatssicherheit — später KGB). In einer Notiz des MGB an Stalin vom 19. Februar 1951 hieß es: „Zwecks Unterbindung einer weiteren antisowjetischen Tätigkeit des jehovistischen Untergrunds hält es das MGB der UdSSR ... für notwendig, namhaft gemachte Jehovisten samt ihren Familien ... in die Oblaste Irkutsk und Tomsk auszusiedeln.“ Das MGB kannte die Namen der Zeugen Jehovas und ließ sich von Stalin grünes Licht dafür geben, 8 576 Zeugen aus 6 Sowjetrepubliken nach Sibirien zu verbannen.

Magdalina Beloschizkaja erzählte aus der Zeit: „Am Sonntag, dem 8. April 1951, hämmerte es um 2 Uhr morgens an der Tür. Mama sprang aus dem Bett und lief hin. Vor uns stand ein Polizeibeamter. ‚Sie werden nach Sibirien verbannt, weil Sie an Gott glauben‘, tönte es aus seinem Mund. ‚Sie haben zwei Stunden zum Packen. Alles, was im Raum ist, dürfen Sie mitnehmen — nur kein Mehl, kein Getreide, keine Möbel, keine Nähmaschine, keine Holzgegenstände und auch nichts vom Hof. Kommen Sie mit Ihrem Bettzeug, Ihrer Kleidung und Ihrem Gepäck dann nach draußen.‘

Wir hatten in unseren Publikationen ja gelesen, dass es im Osten des Landes noch viel zu tun gab. Nun war uns klar, dass die Zeit dafür gekommen war.

Keiner von uns klagte oder weinte. Der Beamte sagte verwundert: ‚Sie haben ja nicht einmal die kleinste Träne vergossen!‘ Wir erklärten ihm, dass wir seit 1948 damit gerechnet hatten. Wir baten ihn um Erlaubnis, wenigstens ein lebendes Huhn mitzunehmen. Doch stattdessen nahmen die Beamten unser Kleinvieh an sich und teilten unsere Hühner vor unseren Augen untereinander auf. Einer nahm 5, einer 6, noch einer 3 oder 4, bis nur noch 2 übrig blieben, die auf Befehl des Beamten geschlachtet und uns mitgegeben wurden.

Unsere 8 Monate alte Tochter lag in einer Holzwiege, deshalb baten wir darum, die Wiege mitzunehmen. Doch er ließ sie zerlegen und gab uns nur den Teil mit, in dem das Baby lag.

Die Nachbarn bekamen mit, was passierte. Als wir losfuhren, warf uns einer einen Beutel mit geröstetem Brot auf den Karren. Aber der wachhabende Soldat sah es und warf ihn zurück. Wir waren zu sechst: Mama, meine beiden Brüder, mein Mann, unsere 8 Monate alte Tochter und ich. Hinter dem Dorf ging es in einem Auto weiter zum nächsten Verwaltungszentrum, wo unsere Papiere ausgefüllt wurden. Danach transportierte man uns auf einem Lastwagen zum Bahnhof.

Es war ein herrlich sonniger Tag. Der Bahnhof war voller Menschen — Exilierte und Zuschauer. Unser Lastwagen fuhr direkt zu einem Waggon, in dem sich bereits Brüder befanden. Schließlich war der Zug voll und alle wurden zur Kontrolle mit Familiennamen aufgerufen. In unserem Waggon waren 52 Personen. Die Leute, die uns verabschiedeten, weinten, einige sogar heftig. Dabei kannten wir viele von ihnen nicht einmal! Aber sie wussten, dass wir Zeugen Jehovas waren und nach Sibirien deportiert wurden. Die Dampflok ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen. Wir fingen an, auf Ukrainisch zu singen: ‚Die Liebe Christi sei mit euch! Geben wir Jesus Christus den Ruhm, sehn wir uns wieder in seinem Königtum.‘ Die meisten von uns waren voller Zuversicht und Vertrauen, dass Jehova uns nicht im Stich lassen würde. Wir sangen mehrere Strophen. Es war so ergreifend, dass sogar einige Soldaten Tränen in den Augen hatten. Schließlich setzte sich der Zug in Bewegung.“

„MAN ERREICHTE GENAU DAS GEGENTEIL“

Dr. Gordijenko, Professor an der Herzen-Universität in Sankt Petersburg, beschrieb in seinem Buch das Resultat der Front gegen die Zeugen: „Man erreichte genau das Gegenteil von dem, was man erwartet hatte. Die Organisation der Zeugen Jehovas in der UdSSR sollte geschwächt werden, wurde aber in Wirklichkeit nur stärker. In den Umsiedlungsgebieten, wo ihre Religion bis dahin völlig unbekannt war, ‚infizierten‘ sie die Ortsansässigen mit ihrem Glauben und ihrer Gesinnungstreue.“

Viele Zeugen passten sich den neuen Umständen schnell an. Sie gründeten kleine Versammlungen und erstellten Predigtdienstgebiete. Nikolaj Kalibaba schilderte das so: „Eine Zeit lang gingen wir in Sibirien tatsächlich von Haus zu Haus, genauer gesagt übersprangen wir dabei immer zwei, drei Häuser. Doch das war riskant. Wie gingen wir vor? Nach dem ersten Kontakt ließen wir circa einen Monat verstreichen und fragten die Leute erst einmal, ob sie Hühner, Ziegen oder Kühe zu verkaufen hätten. Irgendwie kamen wir dann auf das Königreich zu sprechen. Der KGB bekam das nach einer Weile mit und warnte die Bevölkerung in einem Zeitungsartikel vor den Zeugen. Sie sagten, wir würden von Haus zu Haus gehen und nach Ziegen, Kühen und Hühnern fragen — dabei suchten wir ja eigentlich Schafe!“

Gawriil Liwyj erzählte: „Obwohl der KGB die Brüder genauestens beobachtete, versuchten sie, zu predigen. Das Problem war nur, dass die Leute postwendend die Polizei alarmierten, wenn sie das Thema Religion auch nur witterten. Aber wir ließen uns nicht beirren, auch wenn sich im Gebiet anfangs nicht viel tat. Doch nach einer Weile veränderte die Wahrheit das Leben mancher Menschen dort — zum Beispiel eines Russen, der ein starker Trinker war. Er richtete sein Leben nach biblischen Grundsätzen aus und wurde ein eifriger Zeuge. Einmal fragte ihn einer vom KGB, mit wem er sich da bloß ständig abgäbe, die Zeugen wären doch alles Ukrainer.

Der Bruder meinte nur: ‚Als ich noch getrunken habe und in der Gosse lag, hat kein Hahn nach mir gekräht. Jetzt, wo ich normal und ein guter Staatsbürger geworden bin, passt Ihnen das auf einmal nicht. Viele der Ukrainer werden Sibirien wieder verlassen, aber dank ihrer Hilfe werden etliche Sibirer hier so leben, wie Gott es wünscht.‘ “

Einige Jahre später schrieb ein Funktionär aus Irkutsk nach Moskau: „Mehrere hiesige Arbeiter haben sich dafür ausgesprochen, alle diese Leute [Zeugen Jehovas] hoch in den Norden zu schicken, wo sie isoliert sind und umerzogen werden können.“ Doch weder in Sibirien noch in Moskau wusste man, was zu tun war, um Jehovas Zeugen mundtot zu machen.

„WIR HÄTTEN EUCH ALLE ERSCHOSSEN“

Anfang 1957 setzte eine neuerliche Verfolgungswelle gegen Jehovas Zeugen ein — Brüder wurden beschattet, Wohnungen durchsucht. Viktor Gutschmidt erzählte später: „Als ich eines Tages aus dem Dienst heimkam, hatte der KGB auf der Suche nach Literatur die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Ich wurde verhaftet und zwei Monate lang verhört. Unsere kleine Tochter Julia war damals 11 Monate alt, unsere große 2 Jahre.

Bei dem Verhör fragte mich der Ermittlungsbeamte: ‚Bist du nicht Deutscher?‘ ‚Deutsch‘ war damals für viele gleichbedeutend mit Faschist und Deutsche wurden gehasst.

Ich gab ihm zur Antwort: ‚Ich bin kein nationalistischer Mensch, aber wenn Sie die Deutschen in den KZs des NS-Regimes meinen, die früher Bibelforscher genannt wurden und heute Zeugen Jehovas heißen — auf die bin ich stolz! Ich bin stolz darauf, dass kein Einziger von ihnen je ein Maschinengewehr oder eine Kanone abgefeuert hat. Auf diese Deutschen bin ich stolz!‘

Der Beamte schwieg, also redete ich weiter: ‚Ich bin mir sicher, dass sich kein einziger Zeuge Jehovas an all den Aufständen und Revolten beteiligt hat. Selbst unter Verbot halten Jehovas Zeugen unbeirrt an ihrer Gottesanbetung fest. Dabei erkennen sie die rechtmäßigen Obrigkeiten an und ordnen sich ihnen unter, solange deren Gesetze nicht mit den übergeordneten Gesetzen des Schöpfers kollidieren.‘

Jetzt fiel er mir ins Wort: ‚Keine Gruppe haben wir derart unter die Lupe genommen wie euch Zeugen. Wenn wir auch nur das Geringste gegen euch gefunden hätten und wenn ihr nur einen einzigen Tropfen Blut vergossen hättet — wir hätten euch alle erschossen.‘

Da dachte ich bei mir: Wir in der Sowjetunion verdanken unser Leben dem beispielhaften Mut unserer Brüder in aller Welt, Jehova zu dienen. Vielleicht würde ja auch unser Dienst für Gott hier etwas Gutes für unsere Brüder woanders bewirken. Dieser Gedanke gab mir zusätzliche Kraft, an Jehova festzuhalten.“

ZEUGEN IN ÜBER 50 LAGERN

Die neutrale Haltung und der Predigteifer der Zeugen Jehovas waren der Sowjetregierung nach wie vor ein Dorn im Auge (Mar. 13:10; Joh. 17:16). Viele unserer Brüder wurden deshalb zu Unrecht mit hohen Freiheitsstrafen belegt.

Zwischen Juni 1956 und Februar 1957 verabschiedeten daher 462 936 Anwesende auf 199 Bezirkskongressen in aller Welt einhellig eine Petition, die dann in schriftlicher Form an den Ministerrat der Sowjetunion in Moskau ging und auszugsweise lautete: „In mehr als fünfzig Lagern [werden Zeugen Jehovas] zurückgehalten ..., und zwar vom europäischen Russland bis nach Sibirien und nordwärts bis zum Nördlichen Eismeer, ja sogar auf der arktischen Insel Nowaja Semlja ... In Amerika und anderen westlichen Ländern sind Jehovas Zeugen als ‚Kommunisten‘ bezeichnet worden und in den Ländern, die unter kommunistischer Herrschaft stehen, als ‚Imperialisten‘ ... Kommunistische Regierungen haben die Anklage gegen sie erhoben, sie seien ‚imperialistische Spione‘, haben sie vor Gericht gestellt und sie bis zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Und doch haben sie sich nie an irgendeiner umstürzlerischen Tätigkeit ... beteiligt.“ Leider hat die Petition jedoch nicht viel ausgerichtet.

Besonders schwierig war es für Familien mit Kindern. Das berichtete Wladimir Sosnin aus Moskau, der damals drei Söhne großzog: „Es bestand Schulpflicht, und der Druck auf die Kinder vonseiten der Lehrer und Mitschüler, den kommunistisch ausgerichteten Kinderorganisationen beizutreten, war groß. Wir wollten, dass unsere Kinder die nötige Schulausbildung bekamen, und unterstützten sie beim Lernen. Aber es war nicht einfach, in den Kindern die Liebe zu Jehova wachzuhalten. Die sowjetischen Schulen waren durchsetzt von der Idee, den Sozialismus und Kommunismus aufzubauen. Wir Eltern mussten ungemeine Geduld und Ausdauer aufbringen.“

ANGEBLICH DER TOCHTER DAS OHR ABGERISSEN

Semjon Kostyljew und seine Frau Darja hatten drei Kinder und lebten in Sibirien. Hier ihre Geschichte: „Jehovas Zeugen galten damals als fanatisch. 1961 war Alla, unsere mittlere Tochter, gerade in die Schule gekommen und beim Spielen aus Versehen von einem Kind am Ohr verletzt worden. Als die Lehrerin am nächsten Tag nachfragte, was passiert sei, sagte Alla aber nichts, weil sie niemanden verraten wollte. Die Lehrerin, wohl wissend, dass wir Zeugen Jehovas sind, dachte, wir hätten sie geschlagen, um ihr die biblischen Grundsätze einzubläuen. Die Schule schaltete die Staatsanwaltschaft ein. Sogar die Firma, wo ich arbeitete, wurde mit hineingezogen. Die Ermittlungen dauerten ungefähr ein Jahr, bis wir schließlich im Oktober 1962 eine Vorladung vom Gericht bekamen.

Vor dem Prozess hing am Kulturhaus zwei Wochen lang ein Spruchband: ‚Gefährliche jehovistische Sekte bald vor Gericht‘. Meiner Frau und mir machte man zum Vorwurf, dass wir die Kinder nach der Bibel erzogen. Außerdem bezichtigte man uns der Kindesmisshandlung. Angeblich sollten wir unsere Tochter zum Beten gezwungen und ihr mit einem scharfkantigen Kübel das Ohr abgerissen haben! Die einzige Zeugin wäre Alla gewesen, doch sie hatte man in ein Kinderheim in der Stadt Kirensk gesteckt, 700 Kilometer nördlich von Irkutsk, wo wir lebten!

Im Saal waren jede Menge Komsomolzen. Sowie sich das Gericht zur Beratung zurückzog, entstand ein Tumult. Die Leute schubsten und beschimpften uns. Jemand verlangte, dass wir auf der Stelle unsere ‚sowjetische‘ Kleidung auszogen. Alle schrien wie aus einem Mund, man sollte uns umbringen, und einer wollte gleich Ernst damit machen. Die Gemüter erhitzten sich immer mehr, und von den Richtern war nichts zu sehen! Die Beratung zog sich eine ganze Stunde hin. Als die Meute handgreiflich werden wollte, stellten sich eine Schwester und ihr Mann, der kein Zeuge Jehovas war, beschwörend dazwischen und versuchten ihnen zu erklären, dass wir unschuldig seien und sie uns doch bitte nichts antun sollten. Die beiden haben uns buchstäblich ihren Klauen entrissen.

Endlich tauchte ein Richter mit den Beisitzern des Volksgerichts auf und verkündete das Urteil: Entzug des elterlichen Sorgerechts. Ich wurde unter Arrest gestellt und kam für zwei Jahre in ein Besserungsarbeitslager. Unsere Große wurde ebenfalls in ein Kinderheim geschickt und man erzählte ihr, ihre Eltern seien Mitglieder einer gefährlichen Sekte und hätten einen schädlichen Einfluss auf sie.

Unser Sohn durfte bei Darja bleiben, weil er erst drei war. Zwei Jahre danach kam ich wieder heim. Nach wie vor konnten wir nur informell predigen.“

„WIR WAREN STOLZ AUF UNSERE KINDER“

„Mit 13 kam Alla aus dem Waisenhaus zu uns zurück“, erzählte Semjon weiter. „Unsere Freude war groß, als sie sich Jehova hingab und sich 1969 taufen ließ! Zur gleichen Zeit waren im Kulturhaus erneut Vorträge zum Thema Religion angesetzt. Wir beschlossen, uns anzuhören, was sie diesmal zu sagen hatten. Das Hauptthema waren wie immer Jehovas Zeugen. Einer der Agitatoren hielt einen Wachtturm hoch und meinte, dies sei eine gefährliche und schädliche Zeitschrift, die die staatliche Ordnung untergrabe. Die Mitglieder dieser Sekte würden beispielsweise ihre Kinder dazu zwingen, solcherlei Zeitschriften zu lesen und zu Gott zu beten. In einer Familie habe der Vater seiner kleinen Tochter sogar das Ohr abgerissen, weil sie die Zeitschrift nicht lesen wollte. Alla machte große Augen, saß sie doch mittendrin mit zwei völlig intakten Ohren. Sie blieb aber still, aus Angst, ihre Eltern noch einmal zu verlieren.

Unser Sohn Boris war gerade 13, als er sich taufen ließ. Einmal ging er mit Gleichaltrigen in den Straßendienst, was ja damals noch verboten war. Sie hatten keine Bibeln oder sonstigen Publikationen dabei. Plötzlich hielt ein Wagen neben ihnen und die Jungs wurden zur Miliz gebracht. Man verhörte sie, durchsuchte sie, fand aber nichts außer einige auf Papier gekritzelte Bibeltexte. Also ließ man sie laufen. Zu Hause erzählte Boris freudestrahlend, dass er und die anderen für den Namen Jehovas verfolgt worden waren. Wir waren stolz auf unsere Kinder, zumal Jehova ihnen in einer schwierigen Situation beigestanden hatte. Darja und ich wurden danach mehrmals zum KGB zitiert. Ein Beamter meinte: ‚Diese Kinder gehören in eine Kinderkolonie! Schade, dass sie noch keine 14 sind!‘ Wir erhielten wegen der Predigtaktion unseres Sohnes eine Geldstrafe.

Heute wohne ich bei meinem Sohn und meinen Enkelkindern, die auch in der Wahrheit sind. Unsere älteste Tochter lebt in Usbekistan. Sie ist zwar noch keine Zeugin Jehovas, aber sie respektiert uns und die Bibel und kommt oft zu Besuch. Darja hat Jehova bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 treu gedient. Solange ich noch die Kraft habe, begleite ich die Versammlung ins Ferngebiet und suche mit nach Menschen, ‚die zum ewigen Leben richtig eingestellt‘ sind (Apg. 13:48). Ich bin sicher, dass Jehova — so wie es in Jesaja 65:23 steht — sehr bald den Wunsch eines jeden von uns erfüllen wird.“

DAS GUTE VORBILD DER ELTERN

Wladislaw Apanjuk ist im Bethel in Russland. Er weiß noch, wie seine Eltern seinen Geschwistern und ihm von klein auf die Liebe zu Jehova ans Herz legten: „Unsere Eltern sind 1951 von der Ukraine nach Sibirien deportiert worden. Sie haben uns beigebracht, eigenständig zu entscheiden, und zwar so, dass sich Jehova darüber freuen konnte. Besonders gut fand ich immer, dass meine Eltern uns Kindern gegenüber Fehler offen zugegeben und sie nicht unter den Teppich gekehrt haben. Man hat wirklich gemerkt, wie sehr sie Jehova lieben. Meine Eltern haben viel Fröhlichkeit verbreitet, besonders, wenn sie sich mit uns über Jehova und die Bibel unterhalten haben. Es war ihnen anzusehen, wie viel Freude es ihnen gemacht hat, sich mit Jehova zu beschäftigen und über ihn zu reden. Das hat sich auf uns übertragen. Wir haben uns oft vorgestellt, wie es in der neuen Welt sein wird, wenn alles nur noch schön ist und es keine Krankheiten und Kriege mehr gibt.

Als ich in die dritte Klasse kam, hieß es, die gesamte Klasse dürfe sich den Pionieren anschließen, einer sowjetischen Jugendorganisation. Das galt als große Ehre und die meisten Kinder in der Sowjetunion brannten darauf. Auch meine Klassenkameraden konnten es kaum abwarten. Jeder von uns sollte einen Eid aufschreiben, in dem er seine Bereitschaft ausdrückte, sich den Reihen der sowjetischen Pioniere anzuschließen — den künftigen Erbauern des Kommunismus. Ich machte nicht mit. Zur Strafe musste ich nach dem Unterricht im Klassenzimmer bleiben. ‚Du kommst hier erst raus, wenn du diesen Eid geschrieben hast‘, sagte meine Lehrerin. Stunden später klopften ein paar Klassenkameraden ans Fenster und wollten mich überreden, mit ihnen spielen zu gehen. Aber ich blieb sitzen, fest entschlossen, nichts zu schreiben. Gegen Abend kam eine andere Lehrerin vorbei. Als sie mich dort im Klassenzimmer sitzen sah, schickte sie mich heim. Das war mein erster Sieg! Ich war stolz, dass ich etwas tun konnte, was Jehovas Herz erfreute (Spr. 27:11). Zu Hause habe ich meinen Eltern alles ausführlich erzählt. Sie haben sich riesig gefreut und Papa sagte: ‚Gut gemacht, mein Junge!‘ “

DIE BIBEL GILT ALS ANTISOWJETISCH

Manchmal reichte allein der Besitz einer Bibel, um vor Gericht zu kommen. So erging es Nadjeschda Wischnjak: „Mein Mann und ich waren noch keine Zeugen Jehovas, aber die Wahrheit hatte uns tief berührt. Eines Tages kam die Polizei zu mir an den Arbeitsplatz und führte mich ab. Ich konnte mich nicht einmal umziehen. Auch meinen Mann Pjotr holten sie von der Arbeit ab. Zuvor hatte man unsere Wohnung durchsucht und eine Bibel und die Broschüre Nach Harmagedon — Gottes neue Welt gefunden. Pjotr hätte nie gedacht, dass sie mich verhaften würden, denn ich war im 7. Monat schwanger.

Man warf uns Auflehnung gegen die sowjetische Staatsgewalt vor. Wir erklärten, dass wir an die Bibel glauben und sie für uns eine noch viel höhere Autorität ist.

‚Die Bibel ist Gottes Wort, darum möchten wir danach leben‘, sagte ich.

Die Verhandlung fand nur zwei Wochen vor dem Geburtstermin statt. Daher legte der Richter öfter eine Pause ein, damit ich unter Bewachung spazieren gehen konnte. Dabei fragte mich der Wachhabende, weswegen ich vor Gericht stand. Ich konnte ihm wunderbar Zeugnis geben.

Der Richter erklärte die beschlagnahmte Bibel und die konfiszierte Literatur für antisowjetisch. Das hörte ich gern, denn nun galten nicht nur mein Mann und ich als antisowjetisch, sondern auch die Literatur und sogar die Bibel! Man fragte uns, woher wir Zeugen Jehovas kannten. Als wir dem Richter sagten, wir hätten sie im Arbeitslager in Workuta kennengelernt, schrie er verärgert: ‚Da kann man mal sehen, was in unseren Lagern so vor sich geht!‘ Wir bekamen beide 10 Jahre Haft in einem Besserungsarbeitslager.

Pjotr kam nach Mordowien (im mittleren europäischen Russland). Ich kam in Einzelhaft. Im März 1958 wurde unser Sohn geboren. In diesen schweren Zeiten war Jehova mein bester Freund und Helfer. Meine Mutter nahm dann unseren Sohn zu sich und sorgte für ihn. Ich wurde in ein Arbeitslager im sibirischen Kemerowo interniert.

Nach 8 Jahren kam ich vorzeitig frei. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Aufseherin in der Baracke lautstark verkündete, ich hätte niemals antisowjetische Bemerkungen gemacht und unsere Literatur sei rein religiös. Nach der Entlassung 1966 ließ ich mich taufen.“

Bibeln und biblische Literatur waren in den Lagern und Haftanstalten besonders kostbar. In einem Lager in Mordowien hielten die Brüder 1958 regelmäßig Zusammenkünfte ab. Damit die Gruppe beim Wachtturm-Studium nicht überrascht wurde, standen etliche Brüder in Rufweite voneinander Wache. Sobald ein Bruder einen Aufseher sichtete, rief er dem nächsten zu, dass jemand kommt, und so ging es immer weiter bis zu der Gruppe, die gerade studierte. Sofort verteilten sich alle, und die Zeitschrift wurde versteckt. Doch oft tauchte ein Aufseher einfach aus dem Nichts auf.

So wurden die Brüder einmal beim Studium ertappt. Aber Boris Krylzow startete geistesgegenwärtig ein Ablenkungsmanöver, um die Zeitschrift zu retten. Er schnappte sich ein Buch und rannte aus der Baracke. Die Aufseher jagten hinterher. Als sie ihn endlich zu fassen bekamen, stellten sie fest, dass das Buch in seiner Hand ein Band der Schriften Lenins war. Boris musste zwar 7 Tage in Einzelhaft, war aber froh darüber, dass die Zeitschrift gerettet war.

AUSSAAT DER WAHRHEIT IN MOSKAU

Boris Krylzow war einer der Handvoll eifriger Verkündiger, die mit als Erste in der Hauptstadt Moskau die gute Botschaft vom Königreich predigten. Er erzählte: „Damals war ich im Bauwesen tätig. Zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern versuchte ich, informell zu predigen. Der KGB kam dahinter, durchsuchte im April 1957 meine Wohnung und entdeckte dabei biblische Schriften. Ich wurde stracks verhaftet. Der Ermittlungsbeamte erklärte mir, dass Jehovas Zeugen die gefährlichsten Leute im Land seien, und meinte: ‚Wenn wir Ihnen freie Hand lassen, werden viele Sowjetbürger zu Ihnen überlaufen. Darum hält Sie der Staat für eine ernste Bedrohung.‘

Ich entgegnete: ‚Die Bibel verlangt von uns, gesetzestreue Bürger zu sein und zuerst das Königreich und die Gerechtigkeit Gottes zu suchen. Daher haben wahre Christen in keinem Land je versucht, die Macht an sich zu reißen.‘

‚Woher haben Sie die Literatur, die wir bei Ihnen gefunden haben?‘, fragte er.

‚Was stört Sie denn an der Literatur?‘, fragte ich. ‚Darin geht es lediglich um biblische Prophezeiungen und kein bisschen um Politik.‘

‚Ja, aber sie kommt aus dem Ausland‘, erwiderte er.

Man brachte mich in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Stadt Wladimir. Obwohl ich gründlich durchsucht wurde, konnte ich zu meiner eigenen Überraschung vier Wachttürme einschleusen, die auf dünnes Papier geschrieben waren. Jehova hatte mir geholfen, das war keine Frage. In der Zelle schrieb ich alle vier erneut ab. Ich wusste, dass es außer mir noch andere Zeugen im Gefängnis gab und sie seit sieben Jahren keine geistige Speise mehr bekommen hatten. Über eine Schwester, die die Treppen putzen musste, konnte ich die Abschriften weiterleiten.

Allerdings gab es bei den Brüdern einen Informanten, der die Wärter wissen ließ, dass jemand Literatur in Umlauf brachte. Sofort wurde jeder durchsucht und alles an Literatur beschlagnahmt. Kurz danach wurden sie auch bei mir fündig — in der Matratze. Ich bekam 85 Tage Einzelhaft. Doch Jehova sorgte nach wie vor für uns.“

KONTAKT ZUR WAHRHEIT DURCH PROPAGANDAVORTRÄGE

Ein Mittel der ideologischen Kriegführung gegen Jehovas Zeugen in der Sowjetunion waren Vorträge. Hierzu einige Eindrücke von Viktor Gutschmidt: „In unser Lager kamen regelmäßig Agitatoren und hielten Vorträge über den Atheismus. Anschließend stellten die Brüder Fragen, doch die Agitatoren konnten mitunter die einfachsten Fragen nicht beantworten. Gewöhnlich war der Vortragsraum gut besetzt und alle hörten aufmerksam zu. Die Leute ließen sich das nicht nehmen, denn sie waren neugierig, was die Zeugen wohl hinterher sagen würden.

Einer der Agitatoren war ein ehemaliger Priester der russisch-orthodoxen Kirche. Jeder wusste, dass er seinem Glauben während seiner Lagerhaft abgeschworen hatte und Atheist geworden war.

Nach seinem Vortrag fragte ein Bruder: ‚Waren Sie schon vor der Haft Atheist oder erst hinterher?‘

‚Denken Sie doch mal nach‘, erwiderte er. ‚Ein Mann flog ins Weltall, aber weit und breit war keine Spur von Gott.‘

‚Haben Sie denn als Priester damals allen Ernstes geglaubt, Gott würde auf die Menschen aus gerade einmal 200 Kilometern Entfernung herunterschauen?‘, fragte der Bruder. Er bekam keine Antwort. Solche Diskussionen gaben vielen Gefangenen zu denken und etliche fingen danach mit einem Bibelstudium an.

Ein andermal fragte eine Schwester, ob sie etwas sagen dürfe. Der Agitator meinte: ‚Nur zu! Sie sind wahrscheinlich eine Zeugin Jehovas!‘

‚Wie würden Sie jemand bezeichnen, der auf einem Feld steht und ruft: „Ich bringe dich um!“, wenn da weit und breit gar keiner ist?‘, so die Frage der Schwester.

‚Na ja, als nicht gerade sehr intelligent‘, bekam sie zur Antwort.

Darauf die Schwester: ‚Wenn Gott nicht existiert, warum dann gegen ihn kämpfen? Wenn es ihn nicht gibt, gibts auch keinen, gegen den man kämpfen muss.‘ Alle brachen in Gelächter aus.“

DEN PREDIGER WIRD MAN NICHT MEHR LOS

Solche Vorträge über die sowjetische Ideologie wurden natürlich nicht nur in den Lagern gehalten, sondern in erster Linie für die breite Öffentlichkeit in größeren Städten organisiert. So reisten versierte Agitatoren in die verschiedensten Städte, vor allem in solche, wo es viele Zeugen gab, wie Workuta, Inta, Uchta und Syktywkar. Hierzu Bruder Gutschmidt: „1957 hielt ein Agitator im Kulturhaus für die Bergleute von Inta einen Vortrag, zu dem 300 Personen kamen. Er schilderte, was wir glauben und wie wir predigen, und beschrieb völlig korrekt unsere Predigtmethode. Wir verwendeten damals verschiedene Predigten, die für 15 aufeinanderfolgende Besuche gedacht waren. Anschließend warnte er: ‚Wenn Sie sich nicht gleich dagegen wehren, werden Sie den Prediger nicht mehr los. Lassen Sie den zweiten Besuch zu, dann kommt er noch ein drittes Mal.‘

Zwei Stunden lang führte er Wort für Wort aus, was wir bei sechs solcher Besuche sagten, und las dabei von seinen Notizen alle Bibelstellen vor! Ich war damals im Lager, doch meine Frau Polina schrieb mir davon und erzählte, die Brüder, die dabei gewesen wären, hätten ihren Ohren nicht getraut. In der Zeitung erschienen nach dem Vortrag zwar schlechte Kritiken über die Zeugen, aber dafür druckte sie eine ausführliche Abhandlung über das Königreich ab. Außerdem wurde der Vortrag im Radio ausgestrahlt. So konnten Tausende hören, wie und was Jehovas Zeugen predigen.

1962 kam ein Agitator aus Moskau, um einen Vortrag über uns zu halten. Er umriss zunächst unsere jüngere Geschichte und sagte dann: ‚Jeden Monat fließen Millionen von Dollar aus freiwilligen Spenden für die Tätigkeit der Zeugen in den verschiedensten Ländern nach Brooklyn. Doch ihre Oberen besitzen nicht einmal einen Kleiderschrank. Alle essen zusammen im Speisesaal, ob Haushaltshilfe oder Präsident; es gibt keine Rangunterschiede. Sie nennen sich Bruder und Schwester, so wie wir uns mit Genosse anreden.‘

Eine Weile herrschte Schweigen im Saal. Dann meinte er: ‚Trotz alledem werden wir ihre Ideologie nicht übernehmen, so gut sie auch anmutet, denn wir wollen all das ohne Gott bewerkstelligen, mit unserer eigenen Hände Arbeit und unserem eigenen Verstand.‘

Damit hörten wir zum ersten Mal von den Behörden selbst die Wahrheit über Jehovas Zeugen! Das hat uns enorm gestärkt. Auch viele andere Leute konnten durch solche Vorträge von offizieller Seite die Wahrheit über uns erfahren. Den Menschen musste allerdings auch klar werden, dass ihnen die Lehren der Bibel konkret im Leben weiterhelfen konnten!“

PANNEN BEI DER ÜBERWACHUNG

Viele Jahre lang zapfte der KGB Telefonleitungen an, fing Briefe ab oder griff zu sonstigen Überwachungsmethoden. Manchmal installierte er heimlich Abhörgeräte bei Brüdern, die Verantwortung in der Versammlung hatten. Grigorij Siwulskij, der während der Verbotszeit 25 Jahre im Bezirksdienst war, schilderte, wie er 1958 so ein Gerät auf seinem Dachboden entdeckte: „Wir wohnten damals am Rand der sibirischen Stadt Tulun im oberen Stock eines zweigeschossigen Hauses. Einmal kam ich heim und hörte Bohrgeräusche auf dem Dachboden, wo ein Großteil der Literatur deponiert war. Mir war sofort klar, dass der KGB nach typischer Manier den Dachboden verwanzte.

Am Abend erzählte ich der ganzen Familie von meinem Verdacht. Wir beschlossen, in unseren vier Wänden eine Weile nicht mehr über die Versammlung zu reden. Wir stellten das Radio an, drehten es schön laut und ließen es eine ganze Woche laufen. Am Wochenende stieg ich dann mit einem Bruder auf den Dachboden, wo wir ein Abhörgerät mit Kabel fanden. Das Kabel führte von dort aus nach draußen — geradewegs in Richtung Stadt, wo der KGB saß. Ganz offensichtlich hatten sie alles aufgenommen, aber diesmal bestand ihre ganze Ausbeute nur aus Rundfunksendungen.“

UNTERWANDERUNG DURCH DEN KGB

Der KGB merkte, dass der Eifer der Zeugen durch offene Verfolgung nicht zu dämpfen war. Also säte er durch raffinierte Winkelzüge und Täuschungsmanöver Misstrauen gegen Brüder in Schlüsselstellungen und die Organisation generell. Dazu schleuste er zum Beispiel erfahrene KGB-Leute in die Versammlungen ein.

Etlichen KGB-Agenten gelang es sogar, verantwortungsvolle Aufgaben zu bekommen. Diese falschen Brüder taten alles, um das Predigtwerk zu drosseln: Sie schufen eine Atmosphäre der Furcht und Verunsicherung, die das Misstrauen gegen die leitenden Brüder nährte. Obendrein behielten sie die Literatur ein und übergaben sie dem KGB. Laut einem Bericht haben allein zwei Agenten zwischen 1957 und 1959 dem KGB mehr als 500 Wachttürme und sonstige Publikationen ausgehändigt.

Mitte der 1950er-Jahre verloren einige Brüder nach und nach ihr Vertrauen zum Landeskomitee. Gerüchte kursierten, einige vom Landeskomitee würden in Wirklichkeit mit dem KGB zusammenarbeiten und treue Brüder verraten, zum Beispiel die Brüder, die die Literatur vervielfältigten. Hier eine Rückblende von Iwan Paschkowskij: „Im April 1959 wurde ein neues Landeskomitee eingesetzt, zu dem auch ich gehörte. Wir waren fest entschlossen, die Wahrheit hochzuhalten, trotz der Versuche des Teufels, die Bruderschaft zu zerschlagen. Damit begann die schwierigste Zeit in der Geschichte der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion.“

Das Misstrauen wuchs und wuchs. Deshalb hörten einige Brüder auf, die Versammlungsberichte an das Landeskomitee weiterzugeben. Die Verkündiger predigten zwar nach wie vor und gaben auch regelmäßig ihre Berichte ab, aber die meisten wussten nicht, dass ihre Berichte nicht mehr ans Landeskomitee weitergeleitet wurden. Im Jahr 1958 waren bereits Tausende von Verkündigern in ganzen Gruppen vom Landeskomitee abgeschnitten. In Irkutsk, Tomsk und später auch in anderen Städten Russlands wurden diese von der Organisation abgetrennten Gruppen immer größer. Im März 1958 gründeten sie dann ihr eigenes „Landeskomitee“, in der Hoffnung, es werde von allen Versammlungen anerkannt.

Die leitende Körperschaft tat alles, was in ihren Kräften stand, damit sich die Brüder in der Sowjetunion in der Anbetung Jehovas erneut vereinten. Alfred Rütimann aus der Schweiz leitete damals das nordeuropäische Büro, das auch das Werk in der Sowjetunion betreute. In einem Brief schrieb er 1959 an die Brüder in Russland, dass Jehova nur die segnet, die sich um Einheit bemühen und die gute Botschaft vom Königreich predigen. Einige Brüder nahmen sich das zu Herzen und versuchten von da an, das Vertrauen zum Landeskomitee wieder zu stärken. Es dauerte jedoch Jahre, bis es völlig wiederhergestellt war. In der ganzen Zeit sorgte das Landeskomitee durch Kuriere für Nachschub an biblischer Literatur. Die Abgetrennten studierten die Publikationen zwar, hielten aber nach wie vor ihre Predigtdienstberichte zurück.

Der KGB säte unter den Brüdern weiter Misstrauen. So wurden einige eingesperrt, andere bewusst nicht. Dadurch entstand der Eindruck, wer nicht im Gefängnis saß, würde mit dem KGB zusammenarbeiten. Viele betrachteten die leitenden Brüder mit großem Misstrauen und kritischen Augen.

EIN MEDIENWIRKSAMER PROZESS

Ein Regierungsfunktionär aus Irkutsk schrieb in einem Bericht an Moskau: „[Die Zeugen Jehovas aus der Oblast Irkutsk] sind in großem Umfang im Untergrund organisiert. Mitte bis Ende des Jahres 1959 stieß der KGB auf fünf Untergrunddruckereien.“ Entdeckt wurden diese in den sibirischen Städten und Ortschaften Sima, Tulun, Kitoi, Oktjabrski und Salari. Daraufhin wurden alle festgenommen, die damit zu tun hatten.

Die vier zuerst verhafteten Brüder wurden von den Ermittlungsbeamten auf raffinierte Art dazu gebracht, schriftliche Aussagen zur Drucktätigkeit zu machen. Ihre Aussagen wurden in den Lokalzeitungen entstellt wiedergegeben. Die vier Brüder wurden auf freien Fuß gesetzt, dafür aber acht andere Brüder verhaftet. Ihnen sollte im April 1960 in Tulun der Prozess gemacht werden. Der KGB plante einen medienwirksamen Schauprozess. Die vier Brüder sollten als Zeugen der Anklage auftreten. Deshalb dachten viele in den Versammlungen, sie würden mit dem KGB gemeinsame Sache machen.

Mit dem Schauprozess wollte der KGB im Übrigen den Glauben aller anwesenden Zeugen Jehovas untergraben und die Bevölkerung gegen sie aufwiegeln. Zu diesem Zweck wurden vor dem Prozess sogar Führungen in einem Keller veranstaltet, wo die Brüder über etliche Jahre hinweg Literatur gedruckt hatten. In der Stadt kursierten bald zahllose Gerüchte über die Untergrundaktivitäten einer „Sekte“. Am Tag des Prozessbeginns drängten sich über 300 Personen in den Gerichtssaal, darunter viele Zeugen Jehovas, aber auch Journalisten und Fernsehreporter, manche sogar aus Moskau.

TUMULT IM GERICHTSSAAL

Doch die Pläne des KGB lösten sich über Nacht in Luft auf. Den vier Brüdern wurde klar, welchen Fehler sie mit ihrer Aussage gemacht hatten, und sie nahmen sich am Tag vor dem Prozess fest vor, ihr Möglichstes zur Ehre Jehovas zu tun. Während des Prozesses erklärten sie, man habe sie getäuscht und ihre Aussagen verdreht. Dann sagten sie: „Wir sind bereit, uns mit unseren Glaubensbrüdern zusammen auf die Anklagebank zu setzen.“ Im Gerichtssaal brach ein Tumult aus.

Den angeklagten Brüdern gelang es außerdem, im Kreuzverhör niemand zu belasten. Der Richter fragte zum Beispiel Grigorij Timtschuk: „Wer hat die Druckerei in Ihrem Haus gebaut?“ Er sagte: „Ich.“ Auf die Frage: „Wer hat die Literatur gedruckt?“, antwortete er ebenfalls: „Ich.“ „Wer hat die Literatur verteilt?“ Er erneut: „Ich.“ „Und wer hat das Papier gekauft und geliefert?“ Er wiederum: „Auch ich.“ Daraufhin der Staatsanwalt: „Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass Sie Ihr eigener Geschäftsführer, Lieferant und Drucker sind?“

EIN HERZERWÄRMENDER BRIEF

Als der Staatsanwalt mit einem Mal ohne Zeugen dastand, ging er dazu über, den Brüdern konspirative Zusammenarbeit mit dem Ausland vorzuwerfen. Als Beweismaterial dafür legte er einen Brief von Nathan H. Knorr aus dem Bethel in Brooklyn vor. Bruder Michail Sawizkij, der bei der Verhandlung dabei war, berichtete: „Der Staatsanwalt las den vom KGB abgefangenen Brief von Bruder Knorr an die Brüder in der Sowjetunion laut vor. Für uns Zeugen im Saal war das ein unglaubliches Geschenk von Jehova. Der Brief erwärmte uns das Herz. Wir hörten guten Rat aus der Bibel, wurden ermuntert, für unsere Glaubensbrüder liebevoll da zu sein und unter Prüfungen treu zu bleiben. Außerdem wurden wir dazu ermutigt, Gott in allem zu vertrauen, ihn um Weisheit und Anleitung zu bitten und eng mit den ernannten Brüdern zusammenzuarbeiten. Der Staatsanwalt las den Brief vom ersten bis zum letzten Wort vor. Wir sogen förmlich alles auf und hatten das Gefühl, auf einem Kongress zu sein.“ So blieben alle anwesenden Zeugen in ihrem Entschluss fest, Jehova zu dienen — ungeachtet der verschiedenen Haftstrafen, zu denen die Brüder jeweils verurteilt wurden.

IN DER ANBETUNG JEHOVAS WIEDER GLÜCKLICH VEREINT

Für den KGB sah es so aus, als habe er das Werk der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion erfolgreich lahmgelegt. Deshalb holte er zu einem vermeintlich letzten Schlag aus und ließ 1960 ohne Vorwarnung über 450 Brüder in ein Lager in Mordowien internieren. Darunter waren verantwortliche Brüder beider Gruppen: diejenigen, die bei der Organisation geblieben waren, und diejenigen, die sich von ihr getrennt hatten. Der KGB dachte, so einen endgültigen Keil in die Organisation zu treiben. In einem Hetzartikel in der Lagerzeitung wurden Mutmaßungen darüber angestellt, wer gegen wen kämpfen würde. Doch die Brüder nutzten die Gelegenheit, dass alle zusammen waren, um wieder zueinanderzufinden.

Ijow Andronik erzählte später: „Die leitenden Brüder legten allen Zeugen — auch denen, die sich von der Organisation getrennt hatten — ans Herz, sich um Einheit zu bemühen. Sie verwiesen im Besonderen auf den Artikel ‚Die Einheit aller Menschen guten Willens verheißen‘, der in Russisch im Wachtturm vom 1. September 1961 erschienen war. Darin wurde anhand von Grundsätzen und Beispielen erklärt, wie Jehova in alter Zeit sein Volk geleitet hat und wie wichtig es ist, dass jeder nach Frieden und Einheit in der Christenversammlung strebt. Durch ein gründliches Studium des Artikels wurde vielen bewusst, wie kostbar die Einheit unter Gottes Dienern ist, und sie nahmen es sich zu Herzen.“

DANK DER GEISTIGEN SPEISE WIEDER ZUSAMMENGEFÜHRT

Dieser Wachtturm-Artikel half auch den nichtinhaftierten Zeugen, wieder eine Einheit zu bilden. Die mit der Leitung betrauten Brüder besprachen und lasen ihn gemeinsam unter Gebet. In dem Artikel wurde Bruder Rutherford zitiert, der 1941 schon sehr krank war und auf dem Bezirkskongress im August seinen letzten Vortrag hielt. Er bestärkte die Brüder darin, an Jehovas Organisation festzuhalten und keinem menschlichen Führer zu folgen, indem er sagte: „Jedesmal, wenn eine Bewegung aufkommt und zu wachsen beginnt, wird gesagt, ein Mensch, der eine große Anhängerschaft hat, sei deren Führer. ... Wenn ihr, die ihr hier seid, glaubt, dass ich einfach einer der Diener des Herrn bin und dass wir Schulter an Schulter in Einheit wirken, indem wir Gott und Christus dienen, dann sagt ,Ja!‘!“ Ein einstimmiges Ja! war die kraftvolle, unzweideutige Antwort.

Michail Sawizkij sagte über die Zeit: „Einheit war damals in der Sowjetunion dringend nötig. Wir waren Jehova für seinen liebevollen und geduldigen Beistand sehr dankbar. Ein Bruder, der sich von der Organisation getrennt hatte, bat mich sofort um die Zeitschrift, damit dieser Artikel den Brüdern in Bratsk und anderswo vorgelesen werden konnte. Ich erklärte ihm, dass wir nur diese eine Zeitschrift hatten. Er versprach mir jedoch, sie in einer Woche zurückzubringen. Er hielt sein Versprechen und brachte dazu noch von vielen Versammlungen die seit langer Zeit ausstehenden Berichte mit. Hunderte von Brüdern und Schwestern kehrten in den Schoß der Familie der Anbeter Jehovas zurück.“

Iwan Paschkowskij, der über dreißig Jahre im Landeskomitee diente, erzählte: „Über einen ausländischen Bruder, der zu Besuch kam, baten wir Bruder Knorr, an die Brüder in unserem Land zu appellieren, eine Einheit zu bilden und sich der theokratischen Ordnung zu unterstellen. Das tat er auch. 1962 erhielten wir von ihm einen Brief in 25-facher Ausfertigung, und zwar in Russisch und Englisch. Dieser Brief hat vielen die Augen geöffnet.“

DIE SCHAFE HÖREN DIE STIMME IHRES HIRTEN

Das Landeskomitee setzte sich mit aller Kraft für die Einheit unter den Brüdern ein — was unter den gegebenen Umständen kein leichtes Unterfangen war. Im Sommer 1962 war bereits ein ganzer Bezirk wieder in die Organisation eingegliedert worden. Aus reifen Brüdern wurde ein Sonderkomitee gebildet. Jehova segnete die Anstrengungen dieser Brüder und gab ihnen „Weisheit von oben“ (Jak. 3:17). Das bestätigte Aleksej Gaburjak, der zwischen 1986 und 1995 als Kreisaufseher diente: „1965 trafen wir uns mit dem Landeskomitee in Ussolje-Sibirskoje. Wir wurden gebeten, alle Brüder und Schwestern ausfindig zu machen, die durch Verbannung, Haft oder Spaltung zerstreut worden waren, und sie zur Versammlung zurückzuführen. Als Starthilfe bekamen wir einige Adressen. Ich sollte zum Beispiel die Oblaste Tomsk und Kemerowo absuchen und auch die Städte Nowokusnezk und Nowosibirsk. Wir hatten den Auftrag, Versammlungen und Gruppen zu gründen und verantwortliche Brüder zu ernennen und zu schulen. Außerdem sollten wir eine Lieferroute für die Literatur ausarbeiten und Zusammenkünfte organisieren. Und das alles unter Verbot! In kürzester Zeit hatten wir 84 Brüder und Schwestern aufgesucht, die den Kontakt zur Organisation verloren hatten. Wir waren so glücklich, dass Jehovas Schafe wieder die Stimme des vortrefflichen Hirten hörten und ihm mit seinem Volk zusammen dienten!“ (Joh. 10:16).

Innerhalb kurzer Zeit waren viele Brüder aufs Neue mit dem Landeskomitee verbunden und schickten ihre Predigtdienstberichte ein. 1971 waren bereits über 4 500 Verkündiger erneut mit der Organisation vereint. Mitte der 80er-Jahre war das Predigtwerk trotz Verbot in vollem Gang und viele Neue kamen hinzu.

KOSTBARE NEGATIVE

Die Herstellung der Publikationen war für unsere mutigen und umsichtigen Brüder in der Sowjetunion stets mit großem Aufwand verbunden. Wie kamen sie überhaupt an die geistige Speise heran?

Hauptsächlich in Form von Mikrofilmen. In einem Nachbarland wurden hauptsächlich russische und ukrainische, aber auch anderssprachige Zeitschriften, Bücher und Broschüren von Brüdern abfotografiert — und zwar mühselig Seite für Seite. Dazu verwendeten sie eine Mikrofilmkamera mit 30 Meter langen Filmrollen. Zur leichteren Verbreitung wurde jede Veröffentlichung gleich viele Male abfotografiert. Auf diese Weise kamen im Lauf der Jahre viele Kilometer Mikrofilm mit geistiger Speise zusammen. Der Mikrofilm wurde in etwa 20 Zentimeter lange Streifen geschnitten. So konnte er von den Kurieren leichter in die Sowjetunion gebracht werden.

UNTERGRUNDDRUCKEREIEN IN SIBIRIEN

Die Vervielfältigung der Literatur war schwierig, doch Jehova hat die Arbeit gesegnet. Allein 1949/50 wurden 47 165 Exemplare der verschiedensten Publikationen vervielfältigt und an die Versammlungen geliefert. Außerdem fanden laut einem Bericht des Landeskomitees zeitgleich 31 488 Zusammenkünfte statt — und das trotz heftiger Gegnerschaft.

Die Nachfrage nach Literatur stieg zusehends und es wurden neue Druckorte benötigt. Dazu erzählte Stach Sawizkij: „1955 wurde bei uns zu Hause eine Untergrunddruckerei eingerichtet. Mein Vater war allerdings kein Zeuge und daher mussten wir ihn erst um Erlaubnis bitten. Etwa zwei Monate lang hoben wir unter unserem Vorbau einen 2 mal 4 Meter großen Raum aus. Insgesamt hoben wir 300 Schubkarren Erde aus, die wir irgendwie unbemerkt wegschaffen mussten. In 1 1Meter Tiefe stießen wir auf Dauerfrostboden. Wenn wir tagsüber arbeiten waren, ging Mama nach unten und versuchte möglichst unauffällig mit einigen Holzscheiten ein kleines Feuer zu machen, damit der Boden auftaute. Später verlegten wir einen Boden und zogen eine Decke aus Brettern ein. Den fertigen Kellerraum bewohnte dann ein Ehepaar, das dort auch arbeitete. Mama kochte für die beiden, machte ihnen die Wäsche und versorgte sie auch sonst. In diesem Raum wurde bis 1959 gedruckt.

1957 fragte mich der Bruder, der für die Literaturherstellung zuständig war, ob ich bei den Druckarbeiten mithelfen könne. Es müssten mindestens 200 Zeitschriften im Monat produziert werden. Zuerst druckte ich 200, dann 500. Doch der Bedarf stieg und stieg. Ich konnte allerdings nur nachts arbeiten, weil wir als Deportierte tagsüber bei der Arbeit unter Aufsicht eines Vorarbeiters ein gewisses Pensum schaffen mussten und nur einen Tag in der Woche freihatten.

Nach der Arbeit ging ich immer gleich nach unten zum Drucken. In der Zeit habe ich kaum Schlaf bekommen, denn wenn die Maschine erst einmal angelaufen war, musste sie durchlaufen, bis ich mit Drucken fertig war — sonst wäre die Farbe eingetrocknet. Man konnte also die Arbeit nicht einfach unterbrechen und ein andermal fortsetzen. Manchmal hatte ich 500 Seiten zu drucken, auf denen ich mit einer Nadel noch kleinere Korrekturen anbringen musste, damit der Text gut lesbar war. Da es in dem Raum so gut wie keine Belüftung gab, trockneten die Seiten nur schwer.

Nachts brachte ich die Zeitschriften nach Tulun, einer Stadt circa 20 Kilometer von uns entfernt. Wie die Literatur von da aus weiterbefördert wurde, wusste ich nicht genau. Ich wusste nur, dass die Brüder in Krasnojarsk, Bratsk, Ussolje-Sibirskoje und anderen Orten sie verwendeten.

1959 baten mich die Brüder abermals um Mithilfe; es ging um einen neuen Druckort neben dem Bahnhof von Tulun. Also machte ich mich an die altvertrauten Arbeiten wie ausschachten und elektrisches Licht legen. Jehova half uns, umsichtig zu sein. Als alles fertig war, zog dort eine Familie ein, die ungefähr ein Jahr lang die biblische Literatur druckte. Doch eines Tages kam der KGB dahinter. In der Lokalzeitung stand damals, das Beleuchtungssystem würde sogar versierten Elektrikern Rätsel aufgeben.

Außer meiner Familie wussten nur wenige Bescheid über meine Druckerarbeiten. Ich war abends nie anzutreffen, und die Brüder und Schwestern machten sich Sorgen, dass ich im Glauben schwach wurde. Sie kamen oft zu mir nach Hause, um mich zu ermuntern, aber ich war immer weg. In einer Zeit, wo alles unter scharfer Bewachung stand, konnte eben auch das Drucken nur unter strikter Geheimhaltung erfolgen.“

LITERATURHERSTELLUNG IN MOSKAU

Die Behörden wussten nur zu gut, dass die Zeugen dringenden Bedarf an Bibeln und biblischen Publikationen hatten. Wiederholte Eingaben der leitenden Körperschaft, Literatur zu drucken oder einzuführen, wurden entweder abgelehnt oder ignoriert. Da die Literatur in den Versammlungen und Gruppen Mangelware war, suchten die Brüder ständig nach Mitteln und Wegen, um dem Mangel abzuhelfen und sie in den verschiedenen Teilen des Landes zu vervielfältigen, auch in Moskau.

1957 wurde Stepan Lewizkij zu 10 Jahren Haft verurteilt — nur wegen eines einzigen Wachtturms, den man auf dem Esstisch unter der Tischdecke gefunden hatte. Seine Geschichte ging danach wie folgt weiter: „3 1Jahre später hob der Oberste Sowjet das Gerichtsurteil auf. Bevor ich auf freien Fuß kam, rieten mir die Brüder, in die Nähe von Moskau zu ziehen, um dort zu predigen und unser Werk voranzubringen. Ich fand eine Bleibe, zwei Stunden von Moskau entfernt, und fing an, in verschiedenen Stadtteilen Moskaus zu predigen. Das wurde von Jehova wirklich gesegnet, denn nach ein paar Jahren gab es dort eine Gruppe von Brüdern und Schwestern. 1970 bekam ich dann einen Kreis zugewiesen, der Moskau, Leningrad (heute: Sankt Petersburg), Gorki (heute: Nischni Nowgorod), Orjol und Tula umfasste und in dem ich die Versammlungen mit Literatur versorgen sollte.

Für mich stand außer Frage: Es war Jehovas Wille, dass Moskau und auch das sonstige Russland genügend biblische Literatur erhielten. Ich sagte Jehova im Gebet, dass ich auf diesem Gebiet gern mehr für ihn tun wollte. Kurz darauf lernte ich einen Fachmann aus dem Druckwesen kennen, der Verbindung zu mehreren Druckereien in Moskau hatte. So ganz nebenbei fragte ich ihn, ob er eine Druckerei wisse, die ein kleines Buch in Auftrag nehmen würde.

‚Was für ein Buch?‘, fragte er.

‚Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies‘, erwiderte ich nervös.

Tatsächlich arbeitete ein enger Freund von ihm in einer Druckerei. Er war zwar Kommunist und Parteiführer, erklärte sich aber gegen Barzahlung bereit, eine kleine Auflage zu drucken. Es war ein echtes Geschenk für die Brüder, dieses Buch für das Bibelstudium in den Händen zu halten!

Allerdings war es ein gewaltiges Risiko, sowohl für mich als auch für den Drucker. Sobald ein Stoß Publikationen gedruckt war — was meist nachts geschah —, musste er sofort heimlich hinausgeschafft werden. Jehova hielt jedoch seine Hand darüber. In dieser Druckerei wurden viele Bücher gedruckt, wie zum Beispiel Die Wahrheit wird euch frei machen, Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt und sogar das Liederbuch! Die Speise kam immer genau zur richtigen Zeit! (Mat. 24:45). Neun Jahre lang konnten wir diese Druckerei nutzen.

Dann tauchte eines Tages überraschend die Leiterin der Druckerei auf. Der Drucker stellte die Maschine zwar rasch auf den Druck eines Gesundheitsmagazins um, doch in der Hektik gerieten ihm sechs Seiten unserer Publikation dazwischen. Die Leiterin nahm sich ein Musterexemplar zum Lesen mit in ihr Büro und staunte nicht schlecht, als sie mitten im Magazin so ganz themenfremdes Material entdeckte. Sie zitierte den Drucker zu sich und verlangte eine Erklärung dafür. Der KGB wurde eingeschaltet. Dem erzählte der Drucker, nachdem ihm eine lange Haftstrafe angedroht worden war, alles, was er wusste. So kam der KGB schnell auf mich, zumal ich ihm als einziger Zeuge Jehovas in Moskau bekannt war. Ich bekam 5 1Jahre Haft.“ Der Drucker wurde zu 3 Jahren verurteilt.

„ES LEBE HARMAGEDON!“

Viele Brüder und Schwestern saßen lange Zeit im Gefängnis. Bei Grigorij Gatilow waren es, wie er sagte, 15 Jahre: „Das letzte Gefängnis, in dem ich war, hatte einen romantischen Namen: Der weiße Schwan. Es befand sich in einer malerischen Gegend im Kaukasus hoch oben auf einem von fünf Bergen, zwischen denen der Kurort Pjatigorsk lag. Ein ganzes Jahr lang konnte ich hier mit den verschiedensten Menschen über die Wahrheit sprechen. Meine Zelle war ein fantastisches Predigt‚gebiet‘ — und ich brauchte nicht einmal einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die Gefängniswärter brachten mir ständig neue Leute in die Zelle und holten sie nach ein paar Tagen wieder ab, ich kam dagegen nur selten in eine andere Zelle. Ich versuchte, allen möglichst viel von Jehovas Königreich zu erzählen. Viele wollten etwas über Harmagedon wissen. Manche wunderten sich, dass jemand wegen seines Glaubens so lange im Gefängnis bleiben konnte. ‚Wieso schwörst du deinem Glauben nicht einfach ab und gehst heim?‘, fragten mich einige Häftlinge und sogar manche Wärter. Das Schönste war für mich, wenn einer von ihnen ehrlich an der Wahrheit interessiert war. Einmal sah ich, dass jemand an eine Zellenwand gekritzelt hatte: ‚Es lebe Harmagedon!‘ Das Gefängnisleben an sich hatte natürlich nicht viel Erfreuliches, aber ich war glücklich, dass ich über die Wahrheit reden konnte.“

„SIND UNTER EUCH JONADABE?“

Auch viele Schwestern, die sich eifrig im Dienst Jehovas einsetzten, kamen ins Lager (Ps. 68:11). Sinaida Kosyrewa beschrieb die Liebe der Schwestern zueinander und zu den anderen im Lager: „1959, nicht einmal ein Jahr nach meiner Taufe, kamen Wera Michailowa, Ljudmila Jewstafjewa und ich in ein Lager in Kemerowo in Sibirien, wo es 550 Gefangene gab. Bei unserer Ankunft standen einige Frauen am Eingang.

‚Sind unter euch Jonadabe?‘, fragten sie.

Es waren unsere lieben Schwestern! Sie gaben uns schnell etwas zu essen und stellten uns viele Fragen. Sie strahlten eine Herzenswärme und Liebe aus, die ich in meiner Familie nie erlebt hatte, und standen uns Neuankömmlingen von Anfang an zur Seite (Mat. 28:20). Wir merkten gleich, dass die geistige Versorgung hier sehr gut organisiert war.

Wir wurden eine echte Familie. Besonders schön war es im Sommer bei der Heuernte. Die Lagerverwaltung hatte keinerlei Bedenken, dass wir weglaufen oder die Regeln brechen würden, und stellte für uns 20 bis 25 Schwestern lediglich einen Wachsoldaten ab. In Wirklichkeit bewachten wir ihn! Sowie nämlich jemand kam, weckten wir ihn schnell auf, denn wenn man ihn schlafend erwischt hätte, wäre er bestraft worden. Dafür konnten wir uns in der Pause, während er schlief, ausgiebig über die Bibel unterhalten. Auf diese Weise war allen geholfen — ihm und uns!

Ende 1959 kamen einige Schwestern und ich in ein Lager mit strengem Regime. Man steckte uns in eine kalte Zelle. Im Fenster war keine Scheibe und wir schliefen auf Brettern. Tagsüber mussten wir arbeiten: Wir hatten Gemüse zu sortieren und wurden dabei genau beobachtet. Als man merkte, dass wir im Gegensatz zu den anderen Häftlingen nichts stahlen, bekamen wir etwas Heu für unser Nachtlager und ins Zellenfenster wurde eine Scheibe eingesetzt. Nach einem Jahr verlegte man uns in ein Lager mit normalem Regime in Irkutsk.

Dort gab es um die 120 Schwestern. Hier blieben wir 15 Monate. Der erste Winter war bitterkalt und brachte viel Schnee. Wir mussten in einer Holzfabrik schwer arbeiten. Die Wachen durchsuchten uns oft nach Literatur. Wie es aussah, war das ihr einziger Zeitvertreib. Wir waren mittlerweile richtig gut im Verstecken geworden, manchmal zu gut. Einmal versteckten Wera und ich die Zettel mit dem Tagestext so gut in unserer Arbeitsjacke, das wir sie selbst nicht mehr fanden — dafür aber eine Wache! Und so kamen Wera und ich 5 Tage in den Karzer. Draußen waren mehr als 40 Grad minus und die Wände der ungeheizten Zelle waren vereist.

In der Zelle gab es nur kleine Betonbänke, auf denen man gerade so sitzen konnte. Wenn uns sehr kalt wurde, setzten wir uns Rücken an Rücken und stemmten uns mit den Beinen gegen die Wände. Oft schliefen wir dabei ein, schreckten allerdings immer wieder aus dem Schlaf hoch und sprangen dann aus Angst zu erfrieren auf. Den ganzen Tag über bekamen wir nur ein einziges Glas heißes Wasser und 300 Gramm Schwarzbrot. Trotzdem waren wir glücklich, denn Jehova gab uns ‘die Kraft über das Normale hinaus’ (2. Kor. 4:7). Als wir wieder zurück in die Baracke durften, kümmerten sich die Schwestern besonders lieb um uns. Sie hatten schon etwas Warmes zum Essen vorbereitet und für warmes Wasser gesorgt, damit wir uns waschen konnten.“

„EIN VERTRÄGLICHER MENSCH“

Sinaida erzählte weiter: „Im Lager zu predigen war schwierig, denn es war nicht sehr groß und alle kannten die Zeugen. Hier galt das Prinzip aus 1. Petrus 3:1. Wir nannten es: Predigen ohne Worte. Wir hielten unsere Baracke ordentlich und sauber und gingen freundlich und liebevoll miteinander um (Joh. 13:34, 35). Auch kamen wir mit allen anderen im Lager gut aus. Wir strengten uns an, uns so zu verhalten, wie es in Gottes Wort steht, und auf die Bedürfnisse anderer einzugehen. Eine Schwester half anderen beispielsweise gern, wenn sie etwas ausrechnen mussten. Viele merkten, dass sich Jehovas Zeugen von anderen Religionen unterscheiden.

1962 wurden wir von Irkutsk in ein Lager nach Mordowien überführt. Auch hier bemühten wir uns, jederzeit ordentlich auszusehen und auf Hygiene zu achten. Unsere Betten waren stets gemacht und immer sauber. In unserer Baracke lebten ungefähr 50 Insassen, die meisten davon Schwestern. Sie putzten allerdings als Einzige die Baracke. Die anderen wollten diese Arbeit nicht machen. Der Boden in der Baracke war immer frisch geputzt und mit Sand gescheuert. Die Lagerführung stellte uns dafür alles zur Verfügung. Mit uns in der Baracke lebten Nonnen und Intellektuelle. Die Nonnen lehnten die Mithilfe beim Putzen rundweg ab und auch die Intellektuellen waren nicht dazu gewillt. So lag es im Wesentlichen bei uns, für gute hygienische Bedingungen in der Baracke zu sorgen. Wann immer eine Schwester freikam, wurde in ihrer Akte vermerkt, sie sei ‚anpassungsfähig und ein verträglicher Mensch‘.“

EIN BLUMENGARTEN ALS SICHTSCHUTZ

Sinaidas Geschichte ging noch weiter: „Einmal schrieben ein paar Schwestern nach Hause und baten um Samen von Blumen mit großen Blüten. Wir erzählten der Lagerverwaltung von unserer Idee, hübsche Blumen zu pflanzen, und fragten, ob wir dafür Schwarzerde bekommen könnten. Zu unserer Überraschung war die Lagerverwaltung von der Idee begeistert und ließ die Humuserde ins Lager bringen. Wir bepflanzten Blumenbeete entlang der Baracken und legten dazwischen lange Wege an. Bald wuchsen im Lager dicht an dicht langstielige Rosen, allerliebste Bartnelken und andere hübsche und vor allem hohe Blumen. Im farbenfrohen Hauptbeet blühten wunderschöne Dahlien und dicke Stauden hoher Margeriten. Hier gingen wir spazieren, studierten im Schutz der Blumen die Bibel und versteckten in den üppigen Rosenhecken unsere Literatur.

Unsere Zusammenkünfte hielten wir im Gehen ab. Dazu bildeten wir Fünfergruppen. Jede Schwester hatte zuvor einen anderen Absatz aus einer Publikation auswendig gelernt. Nach einem Gebet sagten wir sie uns gegenseitig auf und unterhielten uns darüber. Zum Schluss beteten wir noch einmal und gingen dann weiter spazieren. Den Wachtturm gab es in Form von winzigen Heftchen [wie auf dem Foto auf Seite 161 zu sehen]. Jeden Tag lasen und studierten wir etwas, allem voran den Tagestext. Oder wir zitierten aus dem Kopf die Absätze für die Zusammenkünfte, die dreimal in der Woche stattfanden. Wir versuchten sogar, ganze Bibelkapitel auswendig zu lernen, und sagten sie uns dann zur gegenseitigen Stärkung auf. Dadurch war es nicht so tragisch, wenn bei einer Durchsuchung doch einmal Literatur beschlagnahmt wurde.

Die Lagerleitung versuchte zwar, über andere Häftlinge herauszufinden, wie wir organisiert waren. Viele Gefangene waren jedoch auf unserer Seite. Mit in unserer Baracke lebte Olga Iwinskaja, die Freundin des berühmten Dichters und Schriftstellers Boris Pasternak, der den Nobelpreis für Literatur erhielt. Sie war ebenfalls Schriftstellerin. Sie mochte uns, und es gefiel ihr, wie gut wir organisiert waren. Jehova gab uns Weisheit — vor allem, wenn es um die geistige Speise ging“ (Jak. 3:17).

„JETZT WIRD’S MIR ABER ZU BUNT!“

„Die Publikationen kamen auf verschiedenen Wegen ins Lager hinein“, fügte Sinaida noch hinzu. „Ganz oft war klar ersichtlich, dass Jehova selbst darüber wachte — wie er es ja versprochen hat: ‚Ich will dich keineswegs im Stich lassen noch dich irgendwie verlassen‘ (Heb. 13:5). So waren die Wachposten manchmal einfach wie mit Blindheit geschlagen. Im Winter kam zum Beispiel einmal unsere Brigade zurück von der Arbeit und wurde von den Wachposten am Tor wie üblich durchsucht. Dazu mussten wir uns jedes Mal komplett ausziehen. Ich war die Letzte und hatte unter zwei Hosen neue Literatur versteckt.

Es war kalt und ich war nach dem Zwiebelsystem eingemummelt. Als Erstes durchsuchte die Wächterin meinen Wintermantel, dann meine ärmellose, wattierte Jacke darunter. Ich beschloss, das Ganze so lange wie möglich hinzuziehen, in der Hoffnung, dass sie der Sache leid wurde. Gemächlich zog ich erst den einen Pullover, dann den anderen aus. Während sie die Pullover sorgfältig kontrollierte, entledigte ich mich in aller Seelenruhe mehrerer Schals und Tücher, dann einer Weste, einer Bluse und noch einer Bluse. Blieben noch zwei Hosen und meine Filzstiefel! Umständlich zog ich erst den einen Stiefel aus, dann den anderen, und genauso bedächtig die erste Hose. Ich dachte mir: ‚Was nun? Wenn sie jetzt will, dass ich die andere Hose ausziehe, muss ich wohl losrennen und die Literatur den Schwestern zuwerfen.‘ Doch wie ich mit der ersten Hose gerade fertig war, schrie sie verärgert: ‚Jetzt wird’s mir aber zu bunt! Verschwinde!‘ Flink zog ich mich wieder an und rannte ins Lager.

Woher bekamen wir die Literatur? Die Brüder brachten sie zu einem vereinbarten Ort, und wir wechselten uns dabei ab, sie von dort ins Lager zu bringen. Wenn sie erst einmal im Lager war, versteckten wir sie an einem sicheren Platz. Ab und zu änderten wir das Versteck. Außerdem schrieben wir die Publikationen ständig von Hand ab — und zwar unter der Bettdecke im Licht einer Straßenlampe, die durch das Fenster hereinschien. Die Kopien versteckten wir ebenfalls. Wir hielten uns permanent beschäftigt, um keine einzige Minute zu vergeuden. Sogar auf dem Weg zur Lagerkantine trug jeder von uns stets ein Stück Papier mit einem Bibeltext bei sich.“

„ES IST SO WEIT!“

1965 hob die Sowjetregierung durch einen Erlass unverhofft die Verbannung aller Zeugen Jehovas auf, die zwischen 1949 und 1951 nach Sibirien deportiert worden waren. Die meisten Brüder und Schwestern durften aber nicht an ihren vorherigen Wohnort zurückkehren. Manche Brüder, die nicht in Sibirien bleiben wollten, entschieden sich dann für eine Gegend, wo im Predigtdienst Unterstützung benötigt wurde.

Magdalina Beloschizkaja erzählte: „Fast 15 Jahre lebten wir in Sibirien in der Verbannung. Im Winter fiel dort das Thermometer auf bis zu 60 Grad minus. Im Sommer wurde man von Scharen von Bremsen und Mücken attackiert, die einem sogar in die Augen flogen. Mit Jehovas Hilfe haben wir alles überstanden. Und wir konnten in dieser kalten sibirischen Gegend den Wahrheitssamen ausstreuen! Wie schön! In den 15 Jahren mussten wir in der Kommandantur jeden Monat eine Erklärung unterschreiben, dass wir keinerlei Fluchtversuche unternehmen würden. Manchmal kam uns der Kommandant besuchen und übernachtete bei uns. Er war dann immer besonders freundlich und stellte uns viele Fragen über die Bibel und wie man nach ihr leben kann. Oft wollte er von uns wissen, warum wir uns für diesen Weg entschieden hatten, obwohl wir wussten, dass wir deswegen verfolgt würden. Einmal fragten wir ihn, ob wir Aussicht hatten, eines Tages wieder freie Menschen zu sein. Er zeigte seine Handfläche und sagte: ‚Besteht Aussicht, dass hier je Haare wachsen?‘

‚Nein!‘, antwortete ich.

‚So gering sind die Aussichten für Sie‘, meinte er, wobei er nach kurzer Überlegung hinzufügte: ‚Das heißt, sofern Ihr Gott nicht irgendetwas unternimmt oder ein Wunder für Sie wirkt!‘

Eines Tages im Sommer 1965 wollte ich am Bahnhof einen Brief aufgeben. Der Kommandant sah mich und rief mir von weitem zu: ‚Magdalina, wohin gehen Sie ohne Erlaubnis?‘

‚Nirgendwohin‘, antwortete ich. ‚Ich will nur einen Brief aufgeben.‘ Er kam zu mir herüber und sagte: ‚Es ist so weit! Ab heute sind Sie frei!‘ Dabei warf er mir einen vielsagenden Blick zu, als wollte er sagen: ‚Gott hat Sie befreit!‘ Ich konnte es kaum fassen.

Wir durften uns überall in der Sowjetunion niederlassen, nur nicht an unserem früheren Wohnort. Es war, als ob Jehova zu uns sagte: ‚Verteilt euch und predigt. Das ist das Gebot der Stunde! Verliert keine Zeit, verteilt euch!‘ Hätten wir heimgedurft, hätten sich bestimmt viele von uns in ihrem Heimatort niedergelassen. Aber so zog jeder woandershin. Unsere Familie wählte den Kaukasus.“

Tausende von Zeugen wurden auf diese Weise über die ganze Sowjetunion verstreut. Noch im selben Jahr sagte ein Funktionär auf einer Staatskonferenz fassungslos: „Kann mir mal einer sagen, wie diese Jehovisten-Sekte in unsere neue Stadt gekommen ist, die gerade erst von jungen Freiwilligen gebaut wurde? Eine neue, saubere Stadt und plötzlich tauchen hier diese Jehovisten auf!“ Die Behörden wussten sich wegen Jehovas Zeugen nicht zu helfen. Niemand kann sich Gottes Versprechen in den Weg stellen, die Erde ‘mit der Erkenntnis Jehovas zu füllen’ (Jes. 11:9).

„IHR HABT ‚HEILIGES WASSER‘ “

Für ihr Predigen kamen die Zeugen oft in Straflager. Nikolaj Kalibaba verbrachte viele Jahre in solchen Lagern: „Wir kamen zu viert in ein Straflager im Dorf Wichorewka in der Oblast Irkutsk. Dort saßen circa 70 Brüder ein. Es gab kein Trinkwasser; die einzige Wasserleitung war mit der Kanalisation verbunden. Das Wasser war also eigentlich ungenießbar. Mit dem Essen war es nicht anders; doch Jehova half uns. Keiner der Lagerinsassen zeigte sich je arbeitswillig — nur wir Zeugen! Und wir waren gute Arbeiter. Das fiel der Lagerverwaltung auf und man schickte uns zu Arbeitseinsätzen in andere Lagerzonen. Von dort konnten wir eimerweise Trinkwasser mitbringen. Viele kamen und meinten: ‚Wir haben gehört, ihr habt „heiliges Wasser“. Gebt uns wenigstens ein halbes Glas!‘ Natürlich haben wir das Wasser mit ihnen geteilt.

Etliche Häftlinge hatten ein gutes Herz. Einige waren früher Diebe oder sonst wie kriminell gewesen. Sie lernten die Wahrheit kennen und wurden Zeugen Jehovas. Andere stellten sich zunächst ganz offen gegen die Wahrheit und uns. Aber als im Lager ein Vortrag gegen Jehovas Zeugen gehalten wurde, nahmen sie uns in Schutz und sagten, der Redner hätte Lügen über die Zeugen erzählt.“

„WIR KOMMEN IN MEHREREN GRUPPEN“

Die Brüder baten Jehova ständig um Weisheit, wie sie ihre Situation für die Königreichsinteressen nutzen konnten. Dazu Nikolaj weiter: „Wir hörten, dass wir demnächst in ein Lager nach Mordowien, nicht weit von Moskau, kommen würden. Doch vor unserem Transport dorthin passierte etwas Außergewöhnliches. Einige Soldaten und Wachleute, die die Zeugen mehrere Jahre lang bewacht hatten, baten uns zu unserem großen Erstaunen, ihnen doch einige unserer Lieder vorzusingen und auch etwas mehr über unseren Glauben zu erklären. ‚Wir kommen in mehreren Gruppen, von 10 bis 20 Leuten oder noch mehr‘, meinten sie.

Aus Angst vor möglichen Konsequenzen für sie und uns wollten sie in der Zeit Wachposten abstellen. Wir meinten, dass wir in solchen Sachen ja eigentlich mehr Erfahrung hätten und ebenfalls Wachposten aufstellen würden. Ihre Wachleute hatten das gleiche System wie wir: Sie stellten sich in regelmäßigen Abständen zwischen dem Wachhaus und unserem Treffpunkt auf. Das muss man sich einmal vorstellen: Eine Gruppe Zeugen singt einer Gruppe Offizieren und Wachleuten Königreichslieder vor, danach hält ein Bruder eine kurze Rede über ein biblisches Thema. Uns war, als ob wir in einem Königreichssaal saßen! Diese Szene wiederholte sich mehrmals mit weiteren Gruppen Interessierter. Das zeigte uns, dass Jehova nicht nur viel an uns, sondern auch an diesen aufrichtigen Menschen lag!

Wir konnten von dort jede Menge Zeitschriften ins Lager nach Mordowien mitnehmen, wo es viele Zeugen gab. Für die Literatur gaben mir die Brüder einen Koffer mit Geheimfach, und wir achteten darauf, dass er bei einer Durchsuchung nicht groß auffallen würde. In Mordowien wurden wir gründlichst durchsucht. Ein Wachmann nahm meinen Koffer und rief: ‚Der ist aber schwer! Da müssen ja Schätze drin sein!‘ Er stellte ihn dann aber überraschenderweise mit ein paar anderen Sachen zur Seite und durchsuchte die Habseligkeiten der anderen weiter. Nach der Durchsuchung sagte ein anderer Wachmann zu mir: ‚Nimm deine Sachen und geh!‘ So wurde mein Koffer gar nicht durchsucht und ich konnte mit einem vollen Nachschub an neuer, dringend benötigter geistiger Speise in die Baracke einziehen.

Doch das ist nur eine von vielen Geschichten. Mehr als einmal hatte ich handgeschriebene Traktate in den Stiefeln versteckt. Da ich große Füße habe, war in meinen Stiefeln Platz für viele Seiten. Ich legte sie unter die Einlegesohle und rieb meine Stiefel ordentlich mit einem Fett ein, das sehr glitschig war und entsetzlich stank. Das hat die Wachleute von meinen Stiefeln ferngehalten.“

„DIE WACHLEUTE ÜBERWACHTEN UNS, UND ICH ÜBERWACHTE SIE“

Nikolaj erzählte weiter: „Im Lager in Mordowien wurde ich dazu ausersehen, die Vervielfältigung der Literatur zu beaufsichtigen. Dazu gehörte, Obacht zu geben, ob einer der Wachmänner kam, damit die abschreibenden Brüder schnell alles verschwinden lassen konnten. Die Wachleute überwachten uns, und ich überwachte sie. Einige waren darauf erpicht, uns auf frischer Tat zu ertappen, und tauchten des Öfteren aus heiterem Himmel in der Baracke auf. Sie waren am schwersten im Auge zu behalten. Andere kamen einmal am Tag vorbei. Sie waren toleranter und machten uns keinen Ärger.

Wir schrieben damals von den Originalen ab, die wir an einem sicheren Ort, zum Beispiel in Öfen, versteckten. Einige versteckten wir sogar im Ofen im Kontor des Lagerkommandanten. Die Brüder, die bei ihm saubermachten, hatten im Ofen ein spezielles Fach konstruiert, in dem die kostbaren Originale vieler Wachttürme aufbewahrt wurden. Egal, wie gründlich wir durchsucht wurden, die Originale lagen stets sicher im Kontor des Lagerkommandanten.“

Die Brüder wurden wahre Meister im Verstecken der Literatur. Ein Lieblingsplatz dafür war das Fensterbrett. Sie lernten sogar, Literatur in Zahnpastatuben unterzubringen. Nur zwei, drei Brüder wussten, wo die Originale lagen. Wenn nötig, holte sie einer, dann wurde eine Abschrift davon angefertigt und das Original wieder zurückgebracht. So waren die Originale immer an einem sicheren Platz. Die meisten Brüder betrachteten es als Ehre, die Literatur abzuschreiben — auch wenn sie dafür 15 Tage Einzelhaft riskierten. Viktor Gutschmidt zog Bilanz: „Von 10 Jahren Lager verbrachte ich 3 Jahre in Einzelhaft.“

EXTREM FEIN GESCHRIEBENE WACHTTÜRME

Die Lagerverwaltung hatte allem Anschein nach ein spezielles System entwickelt, um bei den Brüdern biblische Literatur aufzuspüren. Einige Offiziere hatten es regelrecht darauf abgesehen. Dazu wusste Iwan Klimko manches zu sagen: „Im Lagpunkt Nr. 19 in Mordowien wurden die Brüder von Soldaten mit Hunden aus der Lagerzone hinausgeführt und gründlich durchsucht. Alles, was sie am Leib trugen, mussten sie ausziehen, sogar die Fußlappen. Einige Brüder hatten jedoch handgeschriebene Zettel an ihre Fußsohlen geklebt, die von den Wachsoldaten unbemerkt blieben. Außerdem hatten sie Broschüren im Kleinstformat hergestellt, die zwischen den Fingern Platz hatten. Als sie sich mit hocherhobenen Händen hinstellen mussten, behielten sie die kleinen Broschüren zwischen den Fingern, und so konnten einige davon gerettet werden.“

Auch auf andere Weise wurde der Nachschub an geistiger Speise gesichert. Das erzählte Aleksej Nepotschatow: „Einige Brüder konnten extrem fein schreiben — in der sogenannten Spinnennetzschrift. Mit einem scharf gespitzten Stift brachten sie auf Linienpapier zwischen 2 Linien jeweils 3 bis 4 Zeilen unter. 5 bis 6 solcher extrem fein geschriebenen Wachttürme in Miniaturausgabe passten in eine Streichholzschachtel. Für diese Arbeit brauchte man exzellente Augen. Und man musste lange angestrengt arbeiten können. Sobald die Lichter aus waren und alle schliefen, fingen die Brüder unter der Bettdecke an zu schreiben. Die einzige Lichtquelle war eine Funzel am Eingang der Baracke. Wenn man das einige Monate lang machte, konnte man sein Augenlicht ruinieren. Manchmal bekam ein Wachposten dieses nächtliche Abschreiben spitz, und wenn er uns mochte, sagte er nur: ‚Seid ihr immer noch am Schreiben? Wann schlaft ihr denn mal?‘ “

Bruder Klimko erzählte: „Einmal gingen uns jede Menge Literatur und sogar eine Bibel verloren. Sie waren in der Beinprothese eines Bruders versteckt gewesen. Doch die Wachmänner hatten ihn gezwungen, sie abzumachen, und sie dann zerschlagen. Die verstreut liegenden Seiten wurden fotografiert und in der Lagerzeitung veröffentlicht. Das war sogar gut, denn auf diese Weise wurde wieder einmal bestätigt, dass Jehovas Zeugen rein religiös tätig sind. Nach dem Fund sagte der triumphierende Lagerverwalter hämisch zu den Brüdern: ‚Da habt ihr euer Harmagedon!‘ Aber schon am nächsten Tag meldete ihm jemand, dass sich die Zeugen wie gehabt trafen, miteinander lasen und Lieder sangen.“

UNTERHALTUNG MIT DEM GENERALSTAATSANWALT

Ende 1961 kam der Generalstaatsanwalt der Russischen SFSR ins Lager nach Mordowien zur Inspektion. Dabei ging er auch in die Baracke der Zeugen. Er gestattete ihnen, Fragen zu stellen. Viktor Gutschmidt erzählte: „Ich fragte ihn: ‚Denken Sie, dass die Religion der Zeugen Jehovas volksfeindlich ist?‘

‚Nein, das denke ich nicht‘, antwortete er. Im Lauf der Unterhaltung rutschte ihm jedoch heraus, dass allein der Oblast Irkutsk 1959 für die Überwachung der Zeugen 5 Millionen Rubel bewilligt worden waren.

Damit gab er zu verstehen, dass die Behörden genau wussten, wer wir waren, schließlich hatte der Staat 5 Millionen Rubel investiert, um die Zeugen auszukundschaften. Das war eine enorme Summe. Damals bekam man für 5 000 Rubel ein nettes Auto oder ein komfortables Haus. In Moskau wusste man ohne Frage, dass Jehovas Zeugen nicht gefährlich waren.

Der Generalstaatsanwalt meinte dann: ‚Wenn wir dem sowjetischen Volk freie Hand ließen, würden sie euch samt und sonders eliminieren.‘ Damit wollte er sagen, dass das sowjetische Volk uns sehr negativ gegenüberstand. Was wiederum zeigte, dass die atheistische Ideologie und Propaganda bei Millionen Menschen gefruchtet hatte.

Wir sagten: ‚Warten wir doch erst einmal ab, was die Zukunft bringt. Eines Tages werden die Zeugen von Moskau bis Wladiwostok Kongresse abhalten.‘

Worauf er meinte: ‚Vielleicht habt ihr ja irgendwann eine halbe Million auf eurer Seite — aber alle anderen bleiben auf unserer Seite.‘

Mit diesem Schlusswort endete unsere Unterhaltung mit dem Generalstaatsanwalt. Er lag gar nicht einmal so falsch. Heute besuchen über 700 000 Personen in allen Territorien der ehemaligen Sowjetunion die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas. Dort hören sie keine Propaganda, sondern die reine Wahrheit der Bibel.“

„EIN KURORT FÜR DIE ZEUGEN“

Viktor erzählte weiter: „Der Lagerkommandant zeigte dem Generalstaatsanwalt die Blumenbeete und Bäume, die die Zeugen gepflanzt hatten — und auch die Pakete, die sie erhalten hatten und in der Baracke aufbewahrten. Er sagte ihm, dass davon nie etwas gestohlen wurde. Der Mann schaute sich alles mit unverhohlenem Erstaunen an. Später erfuhren wir allerdings, dass er die Lagerleitung angewiesen hatte, die Blumenbeete zu vernichten und die Bäume umzuhauen. ‚Das ist kein Arbeitslager mehr, sondern ein Kurort für die Zeugen‘, hatte er zum Lagerkommandanten gesagt. Er verbot außerdem den Empfang von Paketen und ließ den kleinen Laden schließen, in dem sich die Zeugen Lebensmittel dazukaufen konnten.

Zur Freude der Brüder befolgte der Kommandant aber nicht alle Anweisungen. Die Schwestern durften weiter Blumen pflanzen. Im Herbst banden sie dann immer Blumensträuße für die Lagerangestellten und deren Kinder. Es war zu schön, wenn die Eltern ihren Kindern am Torhaus den Blumenstrauß übergaben und diese dann mit glücklichen Gesichtern zur Schule rannten. Sie mochten die Zeugen.

1964 ließ uns ein Wachmann, dessen Bruder beim KGB arbeitete, wissen, dass die Regierung eine groß angelegte Kampagne gegen uns plante. Doch im Herbst jenes Jahres wurde Nikita Chruschtschow urplötzlich als Regierungschef abgesetzt, und die Verfolgung ebbte ab.“

KÖNIGREICHSLIEDER IM LAGER MIT SONDERREGIME

In den 1960er-Jahren durften die Insassen eines Spezlagers in Mordowien nur einmal im Jahr Pakete empfangen und auch dann nur als „besondere Belohnung“. Es kam ständig zu Durchsuchungen. Sowie man bei jemand ein Stück Papier mit einem Bibeltext entdeckte, hieß es 10 Tage Einzelhaft. Auch die Essensration war dort kleiner als in anderen Lagern. Und die Arbeit war härter: Die Zeugen mussten die Wurzelwerke riesiger Bäume ausgraben. Aleksej Nepotschatow meinte rückblickend: „Wir waren oft am Rand der Erschöpfung, aber wir blieben auf der Hut und ließen uns nicht unterkriegen. Unter anderem half uns das Singen von Königreichsliedern, den Mut nicht sinken zu lassen. Wir bildeten einen mehrstimmigen Männerchor, der sich auch ohne Frauenstimmen unglaublich schön anhörte. Die Lieder munterten nicht nur die Zeugen auf, sondern sogar die Offiziere, und sie baten die Brüder, bei der Arbeit zu singen. Einmal waren wir beim Bäumefällen, als der Begleitposten zu uns kam und sagte: ‚Singt ein paar Lieder! Befehl vom Begleitkommandoführer höchstpersönlich.‘

Dieser Mann hatte die Brüder schon oft Königreichslieder singen gehört. Der Befehl kam genau im rechten Augenblick, denn wir waren völlig erschöpft. Freudig stimmten wir Lieder zur Ehre Jehovas an. Wenn wir im Lager sangen, kamen die Offiziersfrauen oft aus den Nachbarhäusern heraus und hörten uns lange zu. Besonders gut gefiel ihnen das Lied Nr. 6 aus einem alten Liederbuch: ‚Die Erde preise Gott‘. Es hatte einen ansprechenden Text und eine wunderschöne Melodie.“

„DU BIST HIER IN EINER ANDEREN WELT“

Mitunter kam es zu höchst ungewöhnlichen Situationen, wo jeder sehen konnte, was für Menschen Jehovas Zeugen wirklich sind. So erzählte Viktor Gutschmidt: „Wir hatten eine volle Arbeitswoche hinter uns und saßen gerade etwas im Garten, als einige teure elektrische Geräte angeliefert wurden. Der Fahrer war kein Bruder, stammte aber aus unserem Lager. Mit ihm kam ein Einkäufer aus einem anderen Lager. Das Magazin war geschlossen und der zuständige Verwalter im Urlaub, also wurden wir gebeten, die Lieferung zu bestätigen und die Ware abzuladen.

Wir deponierten sie neben dem Magazin, nahe der Baracke der Brüder. Der Einkäufer hatte große Bedenken, die Ware ohne Empfangsbestätigung vom Magazinverwalter dazulassen. Doch der Fahrer redete ihm gut zu: ‚Keine Sorge, hier kommt nichts weg. Du bist hier in einer anderen Welt. Vergiss die Welt da draußen! Hier kannst du sogar deine Uhr liegen lassen, du würdest sie morgen an derselben Stelle wiederfinden.‘ Der Einkäufer wollte die Ware trotzdem keinesfalls ohne Unterschrift zurücklassen, denn sie war immerhin eine halbe Million Rubel wert.

Kurz danach verlangten ein paar Leute von der Lagerverwaltung, dass der Lkw das Lager verließ. Einer von ihnen sagte dem Einkäufer, er solle die Rechnung dalassen und sie am nächsten Tag wieder abholen. Er tat es widerstrebend. Am nächsten Morgen wollte er ins Lager hinein, um sich die Unterschrift zu holen, doch schon am Eingang händigte ihm der Wärter die unterschriebene Rechnung aus.

Später erzählte uns der Wärter, der Mann habe eine halbe Stunde fassungslos dagestanden und immer wieder aufs Tor und auf seine Papiere geschaut, sich zum Gehen gewandt, wieder zurück aufs Tor gestarrt und so weiter. So etwas war ihm wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nicht passiert. Die wertvolle Ware war tatsächlich vollständig abgeliefert und ihr Empfang bestätigt worden — und zwar absolut ehrlich und ganz ohne sein Dazutun. Aber das Sensationellste daran war, dass sich das alles in einem Lager mit Sonderregime abgespielt hatte, wo sogenannte gemeingefährliche Verbrecher ihre Strafe abbüßten. Ganz gleich also, was für Propaganda gegen die Zeugen gemacht wurde, in solchen und ähnlichen Momenten war für alle klar ersichtlich, was für Menschen Jehovas Zeugen wirklich sind.“

„NUN PREDIGEN SIE WIEDER“

1960, nur wenige Tage nachdem die Brüder zum Lagpunkt Nr. 1 in Mordowien gebracht worden waren, wurden mehr als 100 von ihnen in ein Sonderlager im nahe gelegenen Dorf Udarny verlegt, zum Lagpunkt Nr. 10. Das Ganze war als „Testlauf“ für Methoden zur Umerziehung der Zeugen gedacht. Sie mussten dort wie die Häftlinge in den NS-Konzentrationslagern gestreifte Kleidung tragen und neben vielen anderen Arbeiten im Wald riesige Baumstümpfe ausgraben. Als Tagespensum waren pro Person mindestens 11 bis 12 Baumstümpfe angesetzt. Doch oftmals gelang es nicht einmal einer ganzen Arbeitskolonne von Brüdern, auch nur einen einzigen Baumstumpf, beispielsweise den einer gigantischen Eiche, auszuheben, obwohl sie den ganzen Tag schufteten. Oft sangen sie Königreichslieder, um sich gegenseitig Mut zu machen. Manchmal schrie der Lagerverwalter dann: „Für euch Zeugen ist heute das Abendbrot gestrichen, dann wird euch das Singen bestimmt gleich vergehen. Ich werde euch das Arbeiten schon noch beibringen!“ Ein Bruder, der diese Zeit miterlebte, sagte: „Aber Jehova stand uns bei. Trotz der schlimmen Zustände ließen wir im Glauben nicht nach und munterten uns gegenseitig immer wieder mit dem schönen Gedanken auf, dass wir uns in der Streitfrage um das universelle Herrscherrecht auf Jehovas Seite gestellt hatten“ (Spr. 27:11).

In dem Lager gab es etliche „Umerzieher“. Daneben hatte jede Zelle noch ihren eigenen Umerzieher: einen Offizier mindestens im Rang eines Hauptmanns. Ihr Ziel war es, die Zeugen zur Aufgabe ihres Glaubens zu bewegen. Wer nachgab, also seinem Glauben abschwor, würde freikommen. Monat für Monat schrieben die Umerzieher über jeden einzelnen Zeugen eine Beurteilung, die von mehreren Angestellten unterzeichnet wurde. Doch bei jeder Beurteilung mussten sie schreiben: „Reagiert nicht auf Umerziehungsmaßnahmen; steht fest zu seiner Überzeugung.“ Iwan Klimko erzählte: „Von insgesamt 10 Jahren habe ich 6 Jahre hier zugebracht und wurde wie andere Brüder auch als ‚gemeingefährlicher Wiederholungstäter‘ eingestuft. Wie uns die Offiziere sagten, machte man uns das Leben bewusst extrem schwer, um zu sehen, wie wir uns verhielten.“

Ijow Andronik, der dort 5 Jahre interniert war, fragte den Lagerkommandanten einmal: „Wie lange werden wir hier bleiben?“ Der Mann zeigte auf den Wald und sagte: „Bis wir euch alle da hinausgetragen haben.“ Ijow erzählte weiter: „Wir wurden von den anderen isoliert, damit wir keinem predigen konnten. Man ließ uns nicht aus den Augen. Auch wenn nur einer von uns im Lager von A nach B musste, ging das nur in Begleitung eines Aufsehers. Als wir Jahre später in ein weniger strenges Lager überführt wurden, meinten einige Häftlinge, die keine Zeugen waren, zur Lagerleitung: ‚Jehovas Zeugen haben den Kampf gewonnen! Ihr hattet sie isoliert, aber nun predigen sie wieder.‘ “

EIN OFFIZIER ERKENNT SEINE BIBEL WIEDER

Es war äußerst schwierig, in den Lagpunkt Nr. 10 Literatur hineinzubekommen, geschweige denn eine Bibel. An das Wort Gottes heranzukommen schien den Brüdern schier unmöglich. Ein Bruder, der dort einige Jahre einsaß, sagte: „Für Jehova ist nichts unmöglich. Er erhörte unsere Gebete. Wir waren 100 Zeugen im Lager und hatten um mindestens eine Bibel gebetet; doch am Ende hatten wir sogar zwei!“ (Mat. 19:26). Wie kam es dazu?

Ein Oberst war als Umerzieher einberufen worden. Doch wie sollte jemand, der keine Ahnung von der Bibel hatte, die Zeugen „umerziehen“? Er beschaffte sich daher von irgendwoher eine Bibel. Sie war allerdings recht zerfleddert, deshalb gab er sie einem älteren Lagerinsassen, der Baptist war, zur Reparatur. Dieser sollte sie für ihn neu binden, solange er im Urlaub war. Und er wies die Aufseher an, dem Mann die Bibel nicht wegzunehmen. Der Baptist protzte bei den Brüdern mit der Bibel und ließ sich überreden, sie ihnen kurze Zeit auszuleihen, damit sie einen Blick darauf werfen konnten. Als die Brüder diesen kostbaren Schatz in den Händen hatten, nahmen sie die Bibel flugs auseinander und verteilten die Seiten untereinander zum Abschreiben. In den darauffolgenden Tagen verwandelten sich alle Zeugenzellen in betriebsame Schreibstuben. Jede Seite wurde zweimal von Hand abgeschrieben. Ein Bruder erzählte aus der Zeit: „Nachdem alle Seiten wieder eingesammelt waren, hatten wir 3 Bibeln! Der Oberst bekam seine neu gebundene Bibel und wir hatten unsere beiden Kopien. Die eine nahmen wir zum Lesen, die andere versteckten wir in unserem ‚Safe‘: Das waren ein paar Kabelkanäle für Hochspannungsleitungen! Dort hatten wir einige Verstecke eingebaut, denn die Wachleute wagten sich nicht einmal in die Nähe dieser Leitungen. Die Hochspannung war ein verlässlicher Wächter für unsere Literatursammlung.“

Einmal fiel dem Oberst allerdings bei einer Durchsuchung eine handgeschriebene Seite seiner Bibel in die Hände. Als ihm klar wurde, was da passiert war, rief er frustriert: „Und ich hab die Bibel auch noch selbst ins Lager gebracht!“

FEIER DES GEDÄCHTNISMAHLS

Jedes Jahr versuchten die Brüder, in den Lagern das Gedächtnismahl abzuhalten. In einem Lager in Mordowien hat in all den Jahren keiner der Brüder je ein Gedächtnismahl versäumt. Die Lagerleitung wollte das Gedächtnismahl natürlich verhindern. Sie kannte jeweils das Datum und versetzte an dem Tag gewöhnlich das ganze Lagerpersonal in Alarmbereitschaft. Gegen Abend waren es die meisten Wachleute jedoch leid, die Brüder ständig im Auge zu behalten, zumal keiner wusste, wann und wo genau das Gedächtnismahl stattfinden würde.

Die Brüder bemühten sich stets um Wein und ungesäuertes Brot. Einmal entdeckte eine Wacheinheit die Symbole am Gedächtnismahltag in einer Schublade und konfiszierte sie. Doch als die Ablösung kam, konnte ein Bruder, der das Kontor des Kommandoführers der Einheit putzte, die Symbole unbemerkt zurückholen. Die Brüder warteten noch die nächste Wachablösung ab und feierten dann das Gedächtnismahl — mit Symbolen! Das war auch wichtig, denn einer der Brüder war ein Gesalbter.

GEDÄCHTNISMAHLFEIER IM FRAUENLAGER

In anderen Lagern war es nicht weniger schwierig. Walentina Garnowskaja erzählte, wie schwer es im Frauenlager von Kemerowo war, das Gedächtnismahl abzuhalten: „Wir waren dort ungefähr 180 Schwestern. Es war uns nicht erlaubt, uns zu treffen. In 10 Jahren gelang es uns nur zweimal, das Gedächtnismahl zu feiern. Einmal wollten wir es in einem der Büros feiern, wo ich putzte. Die Schwestern fanden sich dort über mehrere Stunden hinweg eine nach der anderen heimlich ein. Etwa 80 Schwestern konnten sich wegstehlen. Auf dem Schreibtisch hatten wir ungesäuertes Brot und trockenen Rotwein stehen.

Wir beschlossen, kein Lied zu singen, und fingen mit einem Gebet an. Alles begann würdig und es herrschte große Freude. Doch auf einmal gab es draußen einen Tumult. Uns wurde klar, dass wir vom Wachpersonal gesucht wurden. Plötzlich sahen wir im Fenster das Gesicht des Kommandoführers, obwohl das Fenster ziemlich hoch lag. Gleichzeitig hämmerte es an der Tür, und uns wurde befohlen, sie aufzumachen. Schließlich stürmten sie herein, griffen sich die Schwester, die die Ansprache hielt, und führten sie in die Strafzelle weg. Eine zweite Schwester nahm mutig ihren Platz ein und setzte die Ansprache fort, aber auch sie wurde gepackt und abgeführt. Rasch sprang eine dritte Schwester ein und versuchte, die Ansprache weiter zu halten. Da pferchten sie uns alle in einen Raum und drohten uns mit Einzelhaft. In dem Raum konnten wir das Gedächtnismahl noch mit Lied und Gebet abschließen.

Als wir in die Baracken zurückgingen, riefen uns die anderen Häftlinge entgegen: ‚Als ihr plötzlich alle weg wart, dachten wir schon, dass Harmagedon gekommen ist und Gott euch in den Himmel geholt hat und wir nun vernichtet werden.‘ Sie kannten uns schon etliche Jahre und hatten von der Wahrheit nie groß etwas wissen wollen. Doch von da an hatten einige ein offenes Ohr dafür.“

SIE RÜCKTEN ENG ZUSAMMEN

In einem Lager in Workuta waren viele Zeugen aus der Ukraine, Moldawien, dem Baltikum und anderen Sowjetrepubliken untergebracht. Iwan Klimko erzählte: „Es war im Winter 1948. Wir besaßen zwar keinerlei biblische Literatur, hatten uns aber heimlich auf kleinen Zetteln notiert, woran wir uns aus alten Zeitschriften erinnern konnten. Die Wachleute wussten allerdings von den Zetteln, und das hieß für uns: endlose nervenaufreibende Durchsuchungsaktionen. An kalten Wintertagen wurden wir nach draußen gejagt und mussten uns dort in Fünferreihen aufstellen. Oft wurden wir dann immer und immer wieder durchgezählt. Wahrscheinlich dachten sie sich, eher würden wir die Zettel herausrücken, als in der Eiseskälte stehen zu bleiben. Während sie uns ständig neu durchzählten, rückten wir eng zusammen und unterhielten uns über einen Punkt aus der Bibel. Wir waren ständig in Gedanken mit der Wahrheit beschäftigt. Jehova hat uns geholfen, ihm treu zu bleiben. Nach einiger Zeit gelang es unseren Brüdern sogar, eine Bibel ins Lager einzuschleusen. Wir teilten sie in mehrere Teile auf, damit uns im Fall einer Durchsuchung nicht gleich die ganze Bibel weggenommen wurde.

Einigen Wachleuten war klar, dass Jehovas Zeugen nicht in ein Gefangenenlager gehörten. Sie waren sehr menschenfreundlich und halfen uns, wo sie nur konnten. Bekam einer von uns ein Päckchen, drückten manche von ihnen einfach beide Augen zu. In jedem Päckchen waren in der Regel ein bis zwei Wachtturm-Seiten versteckt. Diese Seiten, die nur wenige Gramm wogen, waren ungleich kostbarer als viele Kilogramm Lebensmittel. Körperlich gesehen hatten wir Zeugen in jedem Lager immerzu Mangel, aber geistig gesehen waren wir sehr reich“ (Jes. 65:13, 14).

ER TEILT ALLES IN 50 STÜCKE

Mit denen, die an der Wahrheit interessiert waren, studierten die Brüder jede Woche die Bibel. Eine ganze Reihe Häftlinge wussten, dass nach 19 Uhr in den Baracken Bibelstunde war, und sogar die, die das nicht interessierte, verhielten sich dann immer möglichst leise. Ijow Andronik sagte über diese Zeit: „Es war deutlich zu sehen, dass Jehova auf uns achtgab und sein Werk vorantrieb. Wir strengten uns auch an, in Liebe miteinander umzugehen und biblische Grundsätze umzusetzen. Zum Beispiel teilten wir uns die Lebensmittelpäckchen, was in den Lagern damals ganz und gar nicht üblich war.

In einem Lager war Mykola Pjatocha für die Verteilung der Lebensmittel unter den Brüdern zuständig. Ein KGB-Mann sagte einmal: ‚Gibt man dem Mykola ein Bonbon, teilt er es gleich in 50 Stücke.‘ So waren die Brüder! Sie teilten alles, was sie bekamen — ob für das leibliche oder das geistige Wohl. Das half uns und warf ein gutes Licht auf die Wahrheit, sodass sich ehrliche Menschen davon angezogen fühlen konnten“ (Mat. 28:19, 20; Joh. 13:34, 35).

BONUS FÜR GUTES BENEHMEN

In einem Lager erhielten die Angestellten, die direkt mit Zeugen Jehovas zu tun hatten, einen Bonus von bis zu 30 Prozent mehr Gehalt. Wofür der Bonus war, erklärte Viktor Gutschmidt: „Eine ehemalige Kassiererin vom Lager erzählte mir, man habe das Personal in Lagern, wo viele Zeugen einsaßen, angewiesen, nicht die Beherrschung zu verlieren und nicht zu fluchen, sondern stets taktvoll und höflich zu sein. Dann würden sie diesen Bonus bekommen. Damit wollte man beweisen, dass nicht nur Zeugen Jehovas mustergültig leben und dass andere ihnen in nichts nachstehen. Deshalb wurden die Angestellten für ihr gutes Benehmen bezahlt. Im Lager haben viele gearbeitet: medizinisches Personal, Handwerker, Buchhalter, Vorarbeiter — insgesamt waren es um die 100. Keiner wollte sich die Gelegenheit, sich etwas dazuzuverdienen, entgehen lassen.

Eines Tages hörte ein Bruder bei einem Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers einen Brigadier lauthals fluchen. Am nächsten Tag traf er ihn im Lager und sagte zu ihm: ‚Da hat Sie im Wachhaus gestern wohl jemand sehr geärgert, so laut wie Sie geflucht haben.‘ Worauf der Mann zugab: ‚Nein, in mir hatte sich nur im Lauf des Tages alles aufgestaut, und ich musste einfach Dampf ablassen, darum bin ich aus dem Lager rausgegangen.‘ Die Leute taten sich wirklich sehr schwer damit, sich so zu benehmen wie Jehovas Zeugen.“

PREDIGEN HINTER GLAS

Die Brüder nutzten jede Gelegenheit zum Predigen und wurden bisweilen sehr dafür belohnt. Das bestätigte Nikolaj Guzuljak: „Wir haben des Öfteren in dem kleinen Laden im Lager Lebensmittel geholt. Immer wenn ich an der Reihe war, versuchte ich, ein paar Worte über die Bibel fallenzulassen. Die Frau, die mir die Lebensmittel aushändigte, hörte jedesmal aufmerksam zu, und einmal bat sie mich sogar, ihr etwas vorlesen. Drei Tage später wurde ich zum Tor gerufen. Ich sollte zusammen mit einem Bruder im Haus des Lagerkommandanten eine Glasscheibe einsetzen.

In Begleitung von drei Soldaten gingen der Bruder und ich in die Stadt zu der Adresse. Die Tür öffnete sich und wer stand dort? Ebendie Frau, die im Laden arbeitete. Es war die Frau des Lagerkommandanten! Ein Soldat bezog in der Wohnung Posten, die anderen beiden auf der Straße neben dem Fenster. Die Frau machte uns Tee und bat uns, ihr mehr aus der Bibel zu erklären. An jenem Tag setzten wir die Glasscheibe ein und erzählten ihr ausführlich von der Wahrheit. Hinterher sagte sie: ‚Von mir haben Sie nichts zu befürchten. Meine Eltern waren auch so gottesfürchtige Menschen wie Sie!‘ Sie las unsere Publikationen heimlich, ohne Wissen ihres Mannes, der uns Zeugen hasste.“

„GEHEN SIE MORGEN ZUR FABRIK ZURÜCK“

Manche Personen in hohen Stellungen hatten eine gute Meinung von den Zeugen und setzten sich für sie ein. Ein Beispiel: In den 1970er-Jahren beschloss das kommunistische Parteibüro in Bratsk (Oblast Irkutsk), alle in der dortigen Holzfabrik beschäftigten Zeugen zu entlassen. Den Brüdern wurde gesagt: „Ihr seid nicht für die Sowjetregierung, also wird sie auch nicht für euch sorgen. Ihr seid für euren Jehova, dann soll doch er für euch sorgen.“ Die Brüder, die nun auf der Straße standen, dachten sich, das Beste wäre, einfach in aller Öffentlichkeit zu predigen, und so gingen sie von Tür zu Tür. Dabei trafen sie eine Frau an, der sie sich vorstellten und kurz den Grund für ihren Besuch erklärten. Da kam aus der Küche eine Männerstimme: „Mit wem redest du da? Lass die Leute doch herein!“ Sie gingen hinein und der Mann fragte: „Warum sind Sie nicht bei der Arbeit? Heute ist doch ein Arbeitstag!“ Die Brüder erklärten ihm den Grund.

Der Mann war gerade zum Mittagessen nach Hause gekommen, und es stellte sich heraus, dass er Staatsanwalt war. Erbost griff er zum Telefon und erkundigte sich bei der Fabrik, ob es stimme, dass das Parteibüro die Entlassung aller Zeugen Jehovas veranlasst hätte. Als ihm das bestätigt wurde, fragte er: „Wie kommen Sie dazu? Ist Ihnen nicht klar, dass das gesetzwidrig ist? Sie hatten kein Recht dazu! Ich weise Sie hiermit an, allen Zeugen ihre Arbeit zurückzugeben und sie außerdem für die drei Monate, die sie durch Ihr Verschulden nicht arbeiten konnten, zu entschädigen.“ Danach legte er den Hörer auf und sagte zu den Brüdern: „Gehen Sie morgen zur Fabrik zurück und arbeiten Sie da weiter.“

„ICH VERSTECKE DIE LITERATUR JETZT SCHON SEIT 1947“

Bis zu den 1970er-Jahren waren die Brüder wahre Meister darin geworden, Literatur herzustellen, zu verteilen und zu verstecken. So manches Mal war jedoch Geistesgegenwart erforderlich. Das erlebte Grigorij Siwulskij: „1976 kam der KGB einmal zu uns zur Hausdurchsuchung. Am Abend zuvor hatte ich einige Berichte und Adressen von Brüdern einfach gedankenlos unter eine Kommode gelegt. Die Männer vom KGB sahen sehr siegessicher aus, als ob sie wussten, was sie wo zu suchen hatten. Einer der Männer sagte zu mir: ‚Hol Zange und Schraubenzieher, wir nehmen das Sofa auseinander.‘ Ich betete kurz und sagte mit ruhiger Stimme:

‚Wenn Sie wie bei den anderen Zeugen einfach aus heiterem Himmel aufgetaucht wären, wären Sie bei mir fündig geworden. Aber so ist es zu spät. Sie werden nichts finden!‘

‚Was hätten wir denn bei dir gefunden?‘, fragte er zurück.

‚Die Zeitschriften Wachtturm und Erwachet!. Doch da werden Sie heute nichts finden.‘

Ich reichte ihnen das Werkzeug und sagte: ‚Hinterher müssen Sie das Sofa aber wieder so zusammenbauen, wie es war.‘

Einen Moment lang blieben sie unschlüssig stehen. Ich spürte das und sagte darum schnell zu einem von ihnen, einem jungen Mann: ‚Ich schätze mal, dass Sie seit höchstens 3 Jahren solche Durchsuchungen bei den Zeugen machen. Aber ich verstecke die Literatur schon seit 1947. Sie brauchen hier nicht Ihre Zeit zu verschwenden. Die Literatur ist an einem sicheren Platz.‘

Zu meinem Erstaunen gingen sie daraufhin. Ansonsten hätten sie die Berichte und Adressen der Brüder bestimmt auf Anhieb gefunden.“

PERESTROIKA — DIE ZEITEN ÄNDERN SICH

Die 1985 angekündigte Perestroika brachte nicht sofort die erhofften Veränderungen. In manchen Teilen des Landes wurden die Zeugen nach wie vor verurteilt und in Haftanstalten gebracht. Allerdings schrieb das deutsche Zweigbüro 1988 an das Hauptbüro: „Seit Anfang des Dienstjahres sind die Behörden offenbar bereit, [den Brüdern in der UdSSR] etwas mehr Freiheit zuzugestehen, zumindest was die Zusammenkünfte und möglicherweise die Literatur angeht, vorausgesetzt, sie lassen sich vor Ort registrieren. Das Gedächtnismahl konnte fast überall völlig ungehindert abgehalten werden. Die Brüder haben das Empfinden, dass sich die Haltung der Behörden ihnen gegenüber deutlich verändert hat.“

Mit der Zeit erhielt der deutsche Zweig von verantwortlichen Brüdern Adressen von Zeugen, die damit einverstanden waren, dass ihnen Literatur zugeschickt wurde. Diese Brüder gaben die Päckchen dann an die Ältesten weiter, die dafür sorgten, dass die Literatur allen zugute kam. Im Februar 1990 verschickte man solche monatlichen Päckchen bereits an circa 1 600 Privatadressen.

1989 konnten Tausende von Brüdern aus der Sowjetunion den Sonderkongress in Polen besuchen. Jewdokija aus der Stadt Nabereschnyje Tschelny erzählte: „Wir haben inständig zu Jehova gebetet, es uns doch bitte zu ermöglichen, unseren ersten richtigen Kongress mitzuerleben. Als mein Betriebsleiter hörte, dass ich ins Ausland reisen wollte, fragte er ungläubig: ‚Was? Sehen Sie denn nicht fern? Wissen Sie nicht, dass die Grenze geschlossen ist und keiner durchgelassen wird?‘

Im Brustton der Überzeugung antwortete ich ihm: ‚Sie wird offen sein.‘ Und genauso kam es. An der Grenze in Brest wurden einzig und allein Zeugen Jehovas durchgelassen! Die Grenzbeamten durchsuchten uns nicht einmal und waren zu uns allen sehr höflich. Ein Mann gab sich als Kongressbesucher aus und versuchte so, durch die Kontrolle zu kommen. Doch die Grenzbeamten durchschauten ihn sofort und ließen ihn nicht durch. Woran hatten sie das erkannt? Weil alle, die zum Kongress fuhren, über das ganze Gesicht strahlten und nur Handgepäck dabeihatten.“

OFFENE TÜREN IN MOSKAU

1949 hatten sich Jehovas Zeugen in Moskau um eine Registrierung bemüht. Damals hatte ihnen Stalins Regierung Forderungen gestellt, die sie unmöglich erfüllen konnten. Mittlerweile waren gut 40 Jahre vergangen. Am 26. Februar 1990 empfing der Vorsitzende des Rats für religiöse Angelegenheiten in Moskau (und mit ihm seine zwei Stellvertreter sowie drei weitere Komiteemitglieder) eine 15-köpfige Abordnung der Zeugen Jehovas: 11 Brüder aus Russland und anderen Sowjetrepubliken sowie Milton Henschel und Theodore Jaracz aus Brooklyn zusammen mit Willi Pohl und Nikita Karlstroem vom deutschen Zweigbüro.

Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit folgenden Worten: „Es freut uns sehr, dass dieses Treffen mit Zeugen Jehovas zustande gekommen ist. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, aber das ist der erste persönliche Kontakt mit Ihnen. Wir sind offen für Gespräche im Sinne von Glasnost.“ Die Brüder äußerten ihren Wunsch, das Werk der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion registrieren zu lassen. Daraufhin erklärte der Vorsitzende: „Das freut uns zu hören und der Zeitpunkt ist gut. Bald ist Frühling, also die Zeit, um auszusäen. Dann können wir mit einer guten Ernte und guten Ergebnissen rechnen.“

Der Vorsitzende forderte die Brüder reihum auf, sich vorzustellen. Dabei wurde deutlich, dass Jehovas Zeugen in jedem Winkel des Landes zu finden sind, von Kaliningrad bis nach Wladiwostok. Ein Kreisaufseher sagte: „Ich bin hier stellvertretend für 4 Versammlungen in der Oblast Irkutsk. Dazu betreue ich noch den Fernen Osten, die Regionen Chabarowsk und Krasnojarsk sowie die Oblaste Nowosibirsk und Omsk.“ Der Vorsitzende meinte daraufhin erstaunt: „Das ist ja ein riesiges Gebiet — größer als so manches Land!“

Einer der stellvertretenden Vorsitzenden sagte: „Wir müssen Ihren Glauben noch besser kennenlernen. Denn es gibt da ein paar Punkte, die wir nicht verstehen. Zum Beispiel heißt es in einem Ihrer Bücher, Gott werde die Erde reinigen und alle bestehenden Regierungen beseitigen. Wie sollen wir das verstehen?“ Worauf Bruder Pohl antwortete: „Jehovas Zeugen beteiligen sich an keinerlei Gewalthandlungen. Wenn das dort so steht, ist das eine Bezugnahme auf konkrete biblische Prophezeiungen. Jehovas Zeugen predigen Gottes Königreich und sprechen vom ewigen Leben in einem Paradies auf der Erde.“

„Daran ist ja nichts auszusetzen“, meinte der stellvertretende Vorsitzende.

Zu guter Letzt fasste der Vorsitzende zusammen: „Wir sind sehr froh über dieses Treffen mit Ihnen. Ihre Registrierung sollte so schnell wie möglich erfolgen.“

Im März 1991 wurden Jehovas Zeugen in Russland offiziell anerkannt. Damals hatte das Land mehr als 150 Millionen Einwohner und zählte 15 987 Königreichsverkündiger. Was die Brüder und Schwestern in Russland nun brauchten, war weitere Anleitung von Jehova (Mat. 24:45; 28:19, 20).

„EIN UNBESCHREIBLICHES GEFÜHL DES GLÜCKS UND DER FREIHEIT!“

Da Finnland gleich neben Russland liegt, bat die leitende Körperschaft den Zweig in Finnland, bei den Vorbereitungsarbeiten für den internationalen Kongress in Sankt Petersburg vom 26. bis 28. Juni 1992 mitzuhelfen. Was empfanden die Brüder, als sie nach gut einem halben Jahrhundert Verbot nun einen Kongress in Freiheit abhalten konnten? Hier die Eindrücke eines Bruders: „Im Stadion waren Tausende von Brüdern. Die Tränen rollten unaufhörlich. Es war ein unbeschreibliches Gefühl des Glücks und der Freiheit! Nie hätten wir zu träumen gewagt, dass wir in diesem System noch einmal so eine Freiheit erleben würden. Aber Jehova hat das möglich gemacht. Wir dachten an die Zeit zurück, als wir in einem hoch umzäunten Lager zu fünft in einer Strafzelle lagen und vier immer abwechselnd den Fünften wärmten. Um das Stadion war auch eine hohe Mauer, aber hier wollten wir so lange wie möglich bleiben. Dieses Gefühl lässt sich einfach nicht in Worte fassen!

Den ganzen Kongress über hatten wir Tränen in den Augen: Freudentränen darüber, dass wir so ein Wunder miterleben konnten. Wir waren schon über 70, doch wir bewegten uns im Stadion so beschwingt, als hätten wir Flügel. 50 Jahre hatten wir auf diese Freiheit gewartet. Jehova hatte zugelassen, dass wir nach Sibirien verbannt wurden und dann in Gefängnisse und Lager kamen. Doch jetzt waren wir hier im Stadion! Jehova ist mächtiger als sonst irgendwer! Wir haben uns nur angeschaut und vor Rührung geweint. Keiner von uns konnte es so richtig fassen! Einige jüngere Brüder fragten uns besorgt: ‚Ist alles in Ordnung? Hat euch jemand etwas getan?‘ Aber wir brachten vor lauter Weinen kein Wort heraus, bis endlich einer von uns mit tränenerstickter Stimme erklärte: ‚Das sind Freudentränen!‘ Wir erzählten ihnen, wie wir Jehova viele Jahre lang unter Verbot gedient hatten. Und jetzt konnten wir es kaum glauben, wie schnell Jehova alles verändert hatte.“

Nach diesem unvergesslichen Kongress wurde der finnische Zweig gebeten, 15 Sonderpioniere nach Russland zu schicken. So kamen am 1. Juli 1992 Hannu und Eija Tanninen, ein eifriges Ehepaar, nach Sankt Petersburg. Ihre größte Herausforderung war zunächst die Sprache. Nach ihrer ersten Russischstunde gingen sie bereits in den Predigtdienst und boten Bibelstudien an. Hannu erinnert sich: „Anfang der 1990er-Jahre wollte fast jeder in der Stadt ein Bibelstudium. Im Straßendienst gaben uns die Leute gern ihre Adresse. Alle wollten etwas zum Lesen haben. Wenn man einem eine Zeitschrift oder ein Traktat gab, kamen sofort zehn andere und wollten auch etwas haben. Und oft fingen sie gleich auf der Straße oder in der Metro mit Lesen an.“

Ab Oktober 1992 kamen außerdem viele Sonderpioniere aus Polen. In der ersten Gruppe waren auch einige ledige Schwestern. Kurz danach traf eine zweite Gruppe aus Polen ein, die nach Sankt Petersburg geschickt wurde. Ein Jahr später kam eine Gruppe polnischer Pioniere nach Moskau. In den Jahren danach wurden über 170 Brüder aus Polen zur Mithilfe nach Russland geschickt — hauptsächlich Absolventen der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung (SDW).

EINE GROSSE TÜR, DIE ZUR TÄTIGKEIT FÜHRT

Nach dem internationalen Kongress in Sankt Petersburg bewilligte die leitende Körperschaft den Kauf eines 7 Hektar großen Geländes mit einigen alten Gebäuden in Solnetschnoje, einem Dorf nicht weit von Sankt Petersburg entfernt. Nun war es so weit: In Russland sollte ein Bethel gebaut werden. Und der Zweig in Finnland wurde um Mithilfe gebeten. So traf im September 1992 in Solnetschnoje der erste Trupp Bauhelfer aus Finnland ein. Einer von ihnen, Aulis Bergdahl, der später ins Zweigkomitee kam, erzählt: „Meine Frau Eva Lisa und ich nahmen diese Einladung zur Mithilfe bei den Bauarbeiten nur zu gerne an. Für uns lag es auf der Hand, dass Jehova das Werk leitete. Das Bauprojekt wurde von Brüdern aus aller Welt unterstützt.“

Alf Cederlöf, der Bauleiter aus Finnland, und seine Frau Marja-Leena steckten mit ihrer Begeisterung alle Brüder auf der Baustelle an. Auch die Brüder vom finnischen Zweigkomitee waren immer sehr ermutigend. Wie Aulis sagt, kamen während des Baus außerdem Brüder aus Brooklyn zu Besuch: „Nach dem internationalen Kongress 1993 in Moskau besuchte uns Milton Henschel. Er hatte eine sehr ermutigende Art, sowohl in seinen Ansprachen vor den Bauhelfern als auch im privaten Gespräch.“

Die über 700 Bauhelfer stammten aus Europa (viele aus Skandinavien), Amerika, Australien, dem eigenen Land und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie kamen aus den verschiedensten Kulturen und Lebenslagen und hatten unterschiedliche Arbeitsmethoden. Doch wie Sacharja 4:6 sagt, wurde die Arbeit gemeistert, und zwar „ ‚nicht durch eine Streitmacht noch durch Kraft, sondern durch meinen Geist‘, hat Jehova der Heerscharen gesagt“. Jehova baute dieses „Haus“, da bestand kein Zweifel (Ps. 127:1). Die russischen Brüder boten sich gern für das Königreichswerk an. Die meisten waren jung und neu in der Wahrheit, aber viele von ihnen waren bereits im Pionierdienst. Mit Freude lernten sie, wie man beim Bauen schnelle und gute Arbeit leistet und alles theokratisch organisiert und handhabt.

DAS WERK ORGANISIEREN

Gegen Ende des Jahres 1993 trafen die Mitglieder des russischen Landeskomitees in Solnetschnoje ein. Dazu gehörten Iwan Paschkowskij, Dmitrij Liwyj, Wassilij Kalin, Aleksej Werschbizkij, Anatolij Pribytkow und Dmitrij Fedunischin. Ungefähr ein Jahr später kam Michail Sawizkij dazu. Zur Mithilfe stellte ihnen die leitende Körperschaft Horst Henschel vom deutschen Zweigbüro zur Seite.

Mit als Erstes wurde der Reisedienst organisiert. Zunächst wurden fünf Kreise gebildet, zwei in Sankt Petersburg und drei in Moskau und Umgebung. Die ersten fünf ständigen Kreisaufseher waren Artur Bauer, Paweł Bugajsky und Roy Öster in Moskau sowie Krzysztof Popławski und Hannu Tanninen in Sankt Petersburg. Später wurde auch Roman Skiba als Kreisaufseher ernannt. Matthew Kelly, ein Bruder aus den Vereinigten Staaten, der 1992 die SDW absolviert hatte, wurde unter anderem als Bezirksaufseher eingesetzt.

Hannu Tanninen hat noch gut in Erinnerung, wie die ersten Dienstwochen Anfang der 1990er-Jahre abliefen: „Ich kündigte einer Versammlung in Petrosawodsk (Karelien) brieflich meinen Besuch an. In dem Brief wurde erklärt, wie die Zusammenkünfte in dieser Woche ablaufen sollten. Als meine Frau und ich ankamen, holte uns ein Ältester vom Bahnhof ab und brachte uns zu sich nach Hause. Er zeigte mir den Brief und sagte: ‚Wir haben deinen Brief bekommen, aber wir haben ihn nicht verstanden und darum lieber nichts gemacht, sondern auf dich gewartet, damit du uns alles erklärst.‘

Bei unserem ersten Besuch in Murmansk hatten die 385 Verkündiger über 1 000 Bibelstudien. In Wirklichkeit waren es sogar noch mehr, denn viele Studien fanden gruppenweise statt. Eine Pionierin hatte zum Beispiel 13 Bibelstudien, aber über 50 nahmen daran teil!

Danach kamen wir in die Oblaste Wolgograd und Rostow. In der Stadt Wolgograd gab es über 1 Million Einwohner und nur 4 Versammlungen. Die Brüder wollten gern lernen, wie man Zusammenkünfte und Bibelstudien abhält und wie man von Haus zu Haus predigt. Bei jedem Besuch gab es neue Versammlungen zu gründen. Für den Kreisaufseherbericht zählten wir immer zusammen, wie viele sich seit dem letzten Besuch hatten taufen lassen. Das waren in jeder Versammlung 50, 60 oder 80, in einer sogar über 100! So wurden in der Stadt in nur 3 Jahren 16 neue Versammlungen gegründet.“

Im Januar 1996 wurde in Russland ein Zweigkomitee eingesetzt. Gleichzeitig wurden die ersten ständigen Bezirksaufseher ernannt. Zu ihnen gehörten Roman Skiba (Sibirien und Ferner Osten), Roy Öster (Weißrussland, Moskau und Sankt Petersburg bis hin zum Ural), Hannu Tanninen (Kaukasien bis hoch zur Wolga) und Artur Bauer (Kasachstan und Mittelasien). Damals betreute jeder Bezirksaufseher zudem noch einen kleinen Kreis.

GROSSE ENTFERNUNGEN

Roman Skiba war einer der ersten Sonderpioniere, die Anfang 1993 aus Polen kamen. Er erzählt: „Im Oktober 1993 erfuhr ich von meiner neuen Aufgabe als Kreisaufseher. Zu meinem ersten Kreis gehörten Versammlungen im Süden von Sankt Petersburg, in der Oblast Pskow und in ganz Weißrussland. Das war aber beileibe nicht der größte Kreis in Russland. Und so musste ich mich über kurz oder lang an weite Reisen gewöhnen. Im November 1995 bekam ich einen Kreis im Ural anvertraut und wurde gleichzeitig stellvertretender Bezirksaufseher. Damit war ich im Ural und ganz Sibirien bis hin zum Fernen Osten unterwegs. Ein Bruder hat einmal ausgerechnet, dass ein Land wie Polen 38-mal in diesen Bezirk hineinpassen würde! Er umfasste 8 Zeitzonen! Etwa zwei Jahre später wurde ich gebeten, eine Gruppe in Ulan-Bator zu besuchen, der Hauptstadt der Mongolei.

Einmal musste ich von Norilsk, nördlich des Nordpolarkreises, nach Jekaterinburg. Dazu musste ich erst nach Nowosibirsk fliegen und von da aus weiter nach Jekaterinburg. Die Reise blieb uns unvergesslich, denn sie schien einfach kein Ende zu nehmen. Das Flugzeug startete von Norilsk aus mit 12 Stunden Verspätung, und so verbrachten meine Frau Ljudmila und ich einen Tag auf dem Flughafen. Zum Glück hatten wir uns mittlerweile schon angewöhnt, die Zeit unterwegs immer für unser persönliches Studium zu nutzen.

Trotz aller Bemühungen kamen wir dennoch hin und wieder zur Dienstwoche zu spät. Einmal blieb uns auf dem Weg zu einer Versammlung im Bergdorf Ust-Kan (Altai) auf den ungepflasterten Bergstraßen das Auto stehen. So kamen wir nicht nur zu spät zur Durchsicht der Versammlungsunterlagen, sondern auch noch zwei Stunden zu spät zur Zusammenkunft. Wir waren frustriert und rechneten eigentlich damit, dass keiner mehr da war. Um so mehr staunten wir, als in dem gemieteten Saal 175 Anwesende auf uns warteten, und das bei nicht einmal 40 Verkündigern! Dank unserer Verspätung hatten es wohl viele Interessierte aus anderen Bergdörfern noch zur Zusammenkunft geschafft.“ *

UNVERGESSLICHE KONGRESSE

In einigen großen Städten wurden zum ersten Mal Bezirkskongresse abgehalten. Die Brüder dort hatten allerdings noch keine Erfahrung damit, so einen Kongress vorzubereiten. Einer sollte 1996 in einem Stadion von Jekaterinburg stattfinden. Roman Skiba erzählt: „Auf den Stadionrängen wuchs das Gras und im Stadion standen 2 Meter hohe Birken. Es waren noch drei Wochen bis zum Kongress, und es gab dort im Umkreis nur drei Versammlungen. Der Stadionverwalter konnte sich zwar nicht vorstellen, wie in diesem Stadion ein Kongress möglich sein sollte, zeigte sich aber zum Glück sehr hilfsbereit. Die Brüder krempelten die Ärmel hoch und pünktlich zum Kongressbeginn war das Stadion blitzblank. Der Verwalter traute seinen Augen nicht!“ Aus Dankbarkeit gestattete er den Brüdern, in einem der Stadiongebäude die Pionierdienstschule abzuhalten. Wie ein Bruder sagte, wurde das Stadion nach dem Kongress erneut für Sportveranstaltungen genutzt, die der Stadt wieder Geld einbrachten.

Mitunter mussten die Brüder, was Kongresse anging, viel Geduld aufbringen und sehr flexibel sein. In Wladikawkas wurden zum Beispiel einmal rund 5 000 Besucher zum Kreiskongress erwartet. Eigentlich sollte dafür ein Stadion gemietet werden, aber das klappte nicht. Die Brüder disponierten also rasch um und planten ein verkürztes eintägiges Kongressprogramm, das in einem gemieteten Kino fünfmal dargeboten wurde. Außerdem fand am Wochenende in zwei Sälen in Naltschik, nur circa 2 Kilometer voneinander entfernt, das gesamte Kreiskongressprogramm statt. Es fing zeitversetzt an, damit den Rednern vom ersten Kongress gut zwei Stunden Zeit blieben, in den anderen Saal überzuwechseln. Gegen Ende der Woche schien die Stimme bei einigen reisenden Aufsehern nicht mehr mitmachen zu wollen. Ein Bruder errechnete im Nachhinein, dass er in jener Woche 35 Vorträge gehalten hatte! Alles lief gut bis zum späten Samstagvormittag, als in einem Saal plötzlich ein paar Uniformierte mit Hund den Kongress abbrachen und das Gebäude aus technischen Gründen räumen ließen. Die Brüder und Schwestern blieben ruhig wie immer und verließen den Saal, unterhielten sich draußen und aßen ihr Mittagessen. Wie sich herausstellte, hatte es eine telefonische Bombendrohung von einem religiösen Fanatiker gegeben. Das Gebäude wurde durchsucht. Es wurde aber nichts gefunden und die Brüder durften den Kongress fortsetzen. So konnten alle von dem Programm weiter profitieren und der Kongress ging nach einer kleinen Programmänderung erfolgreich zu Ende.

STEINE, SCHILDE UND SCHWERTER

Die Wahrheit verbreitete sich schnell im ganzen Land. Eija Tanninen schildert, was sie und ihr Mann 1998 auf dem Weg von einem Bezirkskongress zum anderen erlebten: „Wir packten gerade alles für die 15-stündige Reise zum nächsten Bezirkskongress, als uns die Brüder fragten, ob wir diverse Dramarequisiten mitnehmen könnten. Das war nicht so ohne, denn wir wussten, dass das Zugpersonal es in der Regel nicht gern sah, wenn man viel Gepäck dabeihatte. Aber mithilfe der Brüder schleppten wir mutig die Steine, Schwerter, Schilde und Taschen mit Kostümen in unser 4-Personen-Abteil, das wir uns mit zwei anderen Fahrgästen teilten. Dort ließen wir uns mit unserem Gepäck nieder.

Als die Schaffnerin die Fahrscheine kontrollierte, fragte sie, warum wir so viel Gepäck dabeihatten. Wir erklärten ihr, das seien Requisiten für ein Drama, das auf einem Bezirkskongress der Zeugen Jehovas aufgeführt werden würde. Sie war sehr freundlich und erzählte uns, sie hätte einige Zeit zuvor einen öffentlichen Vortrag meines Mannes gehört. Diesen Vortrag hatte er bei einem seiner Besuche in einer Versammlung in ihrer Heimatstadt gehalten. So haben wir deutlich Jehovas Hand verspürt.“

ZAUNGÄSTE BEIM BIBELSTUDIUM

Die Schwestern konnten viel voneinander lernen. Dazu Eija: „Ich kann nur erahnen, wie viel Geduld und Demut unsere Schwestern zu Beginn unseres Reisedienstes in Russland aufbringen mussten, denn ich konnte ja die Sprache noch gar nicht richtig. Mich hat auch sehr berührt, dass sie unbedingt lernen wollten, wie man Bibelstudien leitet. Viele waren neu in der Wahrheit, und etliche hatten Jehova in der Verbotszeit gedient, in der Anregungen von Jehovas Organisation nicht immer zu ihnen durchdringen konnten.

1995/96 waren wir in der Stadt Wolschski im Reisedienst. Wenn mich dort eine Schwester zu einem Bibelstudium mitnehmen wollte, fragten oft mehrere Schwestern, ob sie mitkommen könnten. Ich verstand nicht gleich, warum, aber dann erklärten sie mir, sie wollten zuschauen und lernen, wie man Bibelstudien leitet. Ich war einverstanden, vorausgesetzt, dass die Leute, mit denen wir studierten, nichts dagegen hatten und sich dadurch nicht eingeschüchtert fühlten. So waren immer sechs bis zehn Schwestern dabei, in der festen Überzeugung, dass es der Person nichts ausmachen würde — und sie täuschten sich nicht. Nach einigen Monaten hatten viele, mit denen wir studierten, selbst Bibelstudien. Damals gab es in Wolschski 2 Versammlungen. 10 Jahre später waren es schon 11.“

EINE ANTWORT AUF IHRE GEBETE

Die Hilfestellung der Organisation kam nicht nur den neuen Brüdern und Schwestern sehr zugute, sondern auch all denen, die Jehova viele Jahre lang unter Verbot gedient hatten. Dazu ein Rückblick von Hannu Tanninen: „Wir haben die Leitung der Engel in so vielen verschiedenen Situationen verspürt und vieles erlebt, was uns tief beeindruckt hat. 1994 besuchten wir eine neue Versammlung in Nowgorod, heute auch Weliki Nowgorod genannt. Die Brüder brachten uns zu der Wohnung, wo wir die Woche über bleiben konnten. Dort erwartete uns schon Maria, eine ältere Schwester, die extra 50 Kilometer weit gefahren war, um uns zu sehen. Sie war seit fünfzig Jahren in der Wahrheit und hatte sich so sehr gewünscht, einen der ersten Kreisaufseher nach dem Verbot kennenzulernen. Wir fragten sie, wie sie in die Wahrheit gekommen sei. Sie erzählte uns, sie habe die Wahrheit in einem KZ in Deutschland kennengelernt, in das sie mit siebzehn gekommen war, und sich dort von einer gesalbten Schwester taufen lassen. Nach ihrer Freilassung sei sie dann nach Russland zurückgegangen, um dort die gute Botschaft vom Königreich zu predigen. Dafür war sie schließlich inhaftiert worden und viele Jahre lang in Arbeitslagern gewesen.

Als sie ihre Geschichte fertig erzählt hatte, sagte diese demütige Schwester noch, sie habe Jehova in den letzten Wochen oft gebeten, ihr zu zeigen, ob mit ihrem Dienst für ihn vielleicht irgendetwas nicht stimmte. Das hat uns tief berührt. Etwas später an jenem Abend sagte ich zu ihr, dass in der Rubrik ‚Fragen von Lesern‘ im Wachtturm vor längerer Zeit gestanden hatte, eine Taufe sei nur gültig, wenn sie von einem Bruder durchgeführt werden würde. Maria war dafür sehr dankbar. Für sie war es eine Antwort auf ihre Gebete. Und so ließ sie sich liebend gern in der Badewanne taufen — und das 50 Jahre nach ihrer Hingabe im Jahr 1944.“

GEISTIGE SPEISE FÜR 11 ZEITZONEN

Ab 1991 kam die Literatur per Päckchen nach Russland, und zwar aus Deutschland oder Finnland. Im Juli 1993 traf der erste Lkw aus Deutschland mit 20 Tonnen Literatur in Solnetschnoje ein. Vom russischen Zweig aus wurde die Literatur dann regelmäßig per Lkw nach Moskau, Weißrussland und Kasachstan ausgeliefert. Das verlief nicht ohne Probleme. Bis nach Kasachstan waren es zum Beispiel gut 5 000 Kilometer. Oft wurden die Brüder an der Grenze aufgehalten oder steckten im Winter im Schnee fest.

Zur Zeit kommen in Solnetschnoje jeden Monat ungefähr 200 Tonnen Literatur an. Die Bethelfahrer nutzen jede Gelegenheit, um den Zoll- oder Grenzbeamten, die zum Teil gern unsere biblische Literatur lesen, etwas über die Bibel zu erzählen. Als ein Polizist bei einer Kontrolle sah, dass der Bethel-Lkw einer religiösen Organisation gehört, fing er an, lautstark auf die Religionen zu schimpfen. Er erzählte, dass er einmal einen Priester wegen eines schweren Verkehrsdelikts anhalten musste und daraufhin von diesem heftig beschimpft wurde. Die Brüder erklärten ihm, wie Gott mit Menschen umgeht und was er für die Erde und die Menschheit vorgesehen hat. Daraufhin veränderte sich sein Ton und er wurde freundlicher. Er stellte sogar Fragen, sodass die Brüder ihre Bibeln herausholten und sich nett mit ihm unterhielten. Das Gespräch berührte den Polizisten schließlich so sehr, dass er meinte: „Ich werde nach Zeugen Jehovas suchen, damit ich mich weiter unterhalten kann.“

Von 1995 bis 2001 schickte der japanische Zweig Literatur an die Versammlungen in Wladiwostok im Fernen Osten. Von dort aus wurde sie per Schiff zu den Versammlungen auf Kamtschatka gebracht. Die Brüder in Wladiwostok lernten einige Kapitäne kennen, die mit ihrem Schiff nach Kamtschatka fuhren. Ein Kapitän war bereit, die Literatur kostenlos in seiner Kajüte mitzunehmen, und lud sie sogar selbst mit aufs Schiff. „Ich bin zwar kein gläubiger Mensch“, sagte er, „aber ich möchte gern etwas Gutes tun. Ich mag Sie und es gefällt mir, wie Sie organisiert sind. Wenn ich zur Abladestelle komme, brauche ich nicht lange zu warten. Ihre Leute stürzen sich wie die Vögel auf die Literaturkartons und holen sie gleich weg.“

MIT DEM WACHSTUM ENTSTEHT EIN BEDARF

Viele Jahre lang war der russische Wachtturm eine monatliche Zeitschrift mit 16 Seiten in einem etwas größeren Format als heute. Alle Studienartikel wurden ins Russische übersetzt und erreichten die Brüder in der Sowjetunion. Allerdings erschienen sie viel später als die englischen Studienartikel. Sie waren ein halbes bis zwei Jahre verspätet, und die Nebenartikel kamen oft noch später. Ab 1981 hatte der Wachtturm in Russisch 24 Seiten. Seit 1985 gibt es ihn halbmonatlich. Die erste 32-seitige Ausgabe im Vierfarbendruck, die zeitgleich mit der englischen herauskam, war der Wachtturm vom 1. Juni 1990.

Tanja, eine der Übersetzerinnen, meint: „Im Nachhinein ist uns klar, dass vieles, was damals übersetzt und gedruckt wurde, nicht dem entsprach, was man unter einer natürlichen und leicht verständlichen Übersetzung versteht. Es war aber das Beste, was unter den gegebenen Umständen möglich war. Und es war wichtige Speise für Menschen, die schon so lange nach Gottes Wort hungerten.“

Mit der Öffnung des Werkes in den ehemaligen Sowjetrepubliken war auch der Weg frei für unsere Literatur. Die russischen Übersetzer, die in Deutschland saßen, warteten sehnsüchtig auf Hilfe. Zwei neue Entwicklungen trugen zur Verbesserung der Übersetzungsqualität bei. Erstens konnten einige Brüder und Schwestern aus Russland und der Ukraine zu ihrer großen Freude ins deutsche Bethel gehen und dort als Übersetzer ausgebildet werden. Die ersten fünf kamen am 27. September 1991 in Deutschland an. So wurde das russische Übersetzungsteam im Lauf der Zeit umstrukturiert. Das war nicht immer leicht. Ihr „Holz“ und „Stein“ wurde nicht gleich zu „Gold“, sondern durchlief alle Etappen, die in Jesaja 60:17 beschrieben werden.

Zweitens kam den russischen Übersetzern die Arbeit des neuen Übersetzerhilfsdienstes (Translation Services) zugute. Kurz nach der Ankunft der ersten Brüder und Schwestern aus Russland in Selters fand dort nämlich ein Seminar für Übersetzer statt.

Idealerweise sollte in dem Land übersetzt werden, wo man die Sprache spricht. Darum war es ein großer Moment, als das russische Übersetzungsteam von Deutschland im Januar 1994 in das im Bau befindliche Bethel nach Solnetschnoje umsiedelte.

Natürlich war der Abschied von denen, die jahrzehntelang still und leise für ihre Brüder jenseits des Eisernen Vorhangs übersetzt hatten und deren Umstände es nun nicht erlaubten, mitzugehen, recht schwer. An einem Sonntag fuhren die 17 Brüder und Schwestern ab (mit dabei waren auch 2 Brüder, die als Sonderpioniere dienen würden). So gab es beim „russischen Auszug aus Selters“ am 23. Januar 1994 viele Tränen und Umarmungen.

„HIER BIN ICH DER GOTT!“

Viele Jahrzehnte lang war die Haltung der russischen Ärzte und des medizinischen Personals gegenüber den Glaubensansichten ihrer Patienten von zweierlei geprägt: ihrer atheistischen Erziehung und der weitverbreiteten medizinischen Praxis von Bluttransfusionen im Land. Wenn Zeugen Jehovas daher um eine Behandlung ohne Bluttransfusion baten, reagierten die Ärzte jeweils verdutzt oder sogar grob.

Oft gingen sie noch weiter und sagten: „Hier bin ich der Gott!“ Ging der Patient mit dem Arzt nicht einig, konnte er sofort aus dem Krankenhaus entlassen werden. Obendrein wurde die biblische Haltung der Zeugen zu Bluttransfusionen häufig von Gegnern ausgeschlachtet, um ein erneutes Verbot zu erwirken.

Seit 1995 ist im russischen Zweigbüro der Krankenhausinformationsdienst aktiv, um Mediziner über den wahren Standpunkt der Zeugen Jehovas zu informieren. Älteste von über 60 Krankenhaus-Verbindungskomitees wurden in mehreren Seminaren unterrichtet. Sie lernten, wie sie Ärzten und medizinischen Fachleuten wichtiges Informationsmaterial zukommen lassen und Ärzte ausfindig machen können, die Zeugen Jehovas ohne Bluttransfusionen behandeln.

1998 hielten russische Ärzte zusammen mit Kollegen aus dem Ausland in Moskau eine internationale Ärztekonferenz ab. Sie stand unter dem Motto „Transfusionsalternativen in der Chirurgie“ und war die erste ihrer Art in Russland. Unter den Teilnehmern waren über 500 Ärzte aus weiten Teilen Russlands. Zwischen 1998 und 2002 sammelten russische Ärzte auf diesem Gebiet so viel Erfahrung, dass sie Dutzende solcher Konferenzen in mehreren größeren Städten Russlands abhielten. Diese Konferenzen waren äußerst produktiv.

Interessant ist eine Erklärung des ehemaligen Gesundheitsministers und Chefhämatologen der Russischen Föderation, Dr. A. I. Worobjow — nachzulesen in einem offiziellen Schreiben an Rechtsanwälte von Patienten, die Zeugen Jehovas sind. Demnach würden Ärzte ihre Haltung zu Bluttransfusionen neu überdenken. Infolgedessen sei die Sterberate von Müttern bei der Entbindung in Russland um 34 Prozent gesunken. Zuvor sei sie 8-mal höher gewesen als sonst in Europa, da im Rahmen der Geburtshilfe oft völlig unnötig Bluttransfusionen verabreicht würden.

2001 wies das Gesundheitsministerium der Russischen Föderation medizinische Einrichtungen und Ärzte landesweit schriftlich an, die Ablehnung von Bluttransfusionen aus religiösen Gründen zu respektieren. 2002 gab es die sogenannten „Instruktionen zur Verwendung von Blutkomponenten“ heraus. Danach darf Blut nur transfundiert werden, wenn der Patient schriftlich eingewilligt hat. Außerdem sollen bei Patienten, die aus religiösen Gründen keine Blutbestandteile transfundiert bekommen möchten, andere Behandlungsmethoden zum Einsatz kommen.

Nach der Zusammenarbeit mit Vertretern des Krankenhausinformationsdienstes änderten viele Ärzte ihre Meinung zu Bluttransfusionen. Ein Chirurg sagte zu ihnen: „Von Patienten[, die Zeugen sind,] und von Ihnen weiß ich, dass Sie Bluttransfusionen nicht einfach aus einer Laune heraus ablehnen, sondern weil es ein biblisches Gebot ist. Ich wollte das nachprüfen und habe alle Bibelverweise in Ihrem Informationsmaterial nachgeschlagen. Ich bin dann zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Standpunkt wirklich auf der Bibel basiert. Aber warum schweigen sich unsere Priester zu diesem Punkt aus? Wenn dieses Thema jetzt zur Sprache kommt, sage ich meinen Kollegen immer, dass die Zeugen sich an die Bibel halten.“ Heute bieten über 2 000 Ärzte in Russland Patienten, die Zeugen Jehovas sind, Behandlungen ohne Bluttransfusionen an.

MIT FREUDE DABEI

Arno und Sonja Tüngler besuchten die Gileadschule (Außenstelle Deutschland) und haben seit Oktober 1993 schon in verschiedenen Städten Russlands gepredigt. Wie ging es dort mit dem Werk Jehovas voran? Hier ihre Erlebnisse:

Arno: „Nur wenige Wochen nach unserem Umzug nach Moskau hatten wir bereits die ersten Aufgaben in der Theokratischen Predigtdienstschule. Nach sechs Wochen in Russland musste ich schon meinen ersten Vortrag auf einem Kongress halten. Unsere Versammlung hatte rund 140 getaufte Verkündiger und ein Predigtgebiet so groß wie ein ganzer Kreis in Deutschland! Unser erstes Gebiet lag neben unserem Pionierheim. Das war eine aufregende Zeit, denn wir waren die allerersten Zeugen, die dort von Tür zu Tür predigten!“

Sonja: „Obwohl wir fast kein Russisch konnten, gingen wir manchmal allein in den Straßendienst und gaben den Leuten Traktate oder etwas anderes zum Lesen. Die Brüder und Schwestern aus der Versammlung unterstützten uns sehr gut, und es war kein Problem, Partner für den Predigtdienst zu finden. Sie waren sehr freundlich und geduldig mit uns, auch wenn wir im Dienst nur gebrochen Russisch sprechen konnten. Die Leute an den Türen waren ebenso geduldig mit uns. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war das Interesse an Religion enorm groß.“

Arno: „Eine große Hilfe beim Erlernen der Sprache waren der Haus-zu-Haus-Dienst und Bibelstudien. Nach einem guten Vierteljahr in Russland hatten wir schon 22 Bibelstudien. Dadurch hörten wir, wie die Leute im Alltag reden, und hatten viele Gelegenheiten zum Sprechen.

Auf den Kongressen ließen sich damals unglaublich viele taufen — mitunter 10 Prozent der Anwesenden oder noch mehr. In den Versammlungen gab es oft nicht genügend Brüder, die als Älteste oder Dienstamtgehilfen dienen konnten. Ein Ältester war doch tatsächlich vorsitzführender Aufseher von 5 Versammlungen! Er bat mich, in einer davon die Gedächtnismahlansprache zu halten. Es kamen 804 Personen. Anschließend mussten alle schnell der nächsten Versammlung Platz machen. Ihr Redner hatte allerdings Probleme mit dem Auto und schaffte es nicht rechtzeitig zum Gedächtnismahl, also hielt ich die Ansprache noch einmal — diesmal vor 796 Anwesenden! Damit hatten allein in den beiden Versammlungen 1 600 Personen das Gedächtnismahl besucht! Das zeigt, wie groß das Interesse an der Wahrheit damals war.“

JEHOVA ‘BESCHLEUNIGT’ DIE ERNTE

In seinem Wort hat Jehova versprochen, die Einsammlung der „begehrenswerten Dinge“ zu „beschleunigen“ (Hag. 2:7; Jes. 60:22). 1980 gab es in Sankt Petersburg (damals noch Leningrad) 65 Verkündiger, die trotz Überwachung durch den KGB versuchten, mit anderen ins Gespräch über die Bibel zu kommen. 1990 predigten bereits über 170 Zeugen in verschiedenen Stadtteilen informell im Straßendienst. Und kurz nach der Registrierung der Tätigkeit der Zeugen Jehovas im März 1991 gab es in der Stadt 5 Versammlungen. 1992 fand dort ein internationaler Kongress statt. Weitere theokratische Höhepunkte folgten. All das führte zu einer schnellen Mehrung, sodass es 2006 in Sankt Petersburg über 70 Versammlungen gab.

In Astrachan, nicht weit von der Grenze zu Kasachstan, gab es 1995 nur eine Versammlung ohne irgendeinen Ältesten oder Dienstamtgehilfen. Dennoch hielten die Brüder einen Kreis- und einen Tagessonderkongress ab. Für die Vorträge reisten Älteste aus der gut 700 Kilometer entfernten Republik Kabardino-Balkarien an. Die Brüder wussten zuvor nicht, wie viele sich auf den Kongressen taufen lassen wollten. Roman Skiba erzählt: „Ein Ältester und ich waren zwei Wochen vor Kongressbeginn da. Geplant war, mit der Versammlung zu predigen und mit den Taufbewerbern die Fragen durchzugehen. Doch für den Dienst blieb uns überhaupt keine Zeit, denn wir waren vollauf mit den 20 Taufbewerbern beschäftigt!“

In Jekaterinburg luden die Brüder 1999 eine ganze Reihe Markthändler zum Gedächtnismahl ein. Die Händler fragten, ob sie Freunde mitbringen könnten. Die Überraschung der Brüder war groß, als auf einmal rund 100 Leute im Saal erschienen! Obwohl ein großer Saal gemietet worden war, mussten einige stehen.

BIBELSTUDIEN IN FÜNFZIGERGRUPPEN

Nicht weit von Moskau liegt die Oblast Iwanowo. Dort nahm das Predigen Ende 1991 seinen Anfang, als Pawel Dimow und seine Frau Anastasia dorthin zogen. Vor ihnen lag eine schwierige Aufgabe — in der Oblast lebten über eine Million Menschen, denen gepredigt werden musste. Wo sollten sie anfangen? Sie entschieden sich für eine einfache, effektive Methode: einen Literaturstand, und zwar auf dem belebtesten Platz in der Stadt Iwanowo. Dort legten sie Broschüren, Zeitschriften und Bücher aus. Viele Passanten blieben stehen und zeigten echtes Interesse. Ihnen wurde ein Bibelstudium angeboten. Von einem Heimbibelstudium konnte man dabei allerdings nicht mehr reden. Dieses Studium fand nämlich in gemieteten Sälen statt und wurde von circa 50 Personen besucht. Es war ähnlich gestaltet wie die Zusammenkünfte und bestand aus zwei Teilen: Zuerst wurden einige Abschnitte aus dem Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben! besprochen und dann wurde ein Wachtturm-Artikel studiert. Es fand dreimal in der Woche statt und dauerte jeweils drei Stunden. Drei solcher Studien wurden in verschiedenen Stadtteilen abgehalten. Auf seinem Berichtszettel vermerkte Pawel jedes Mal nur 3 Heimbibelstudien. Als man ihn fragte, warum er so wenige Bibelstudien hatte, wo doch die meisten Verkündiger 10 bis 20 berichteten, stellte sich heraus, dass zu seinen Bibelstudien jeweils um die 50 Leute kamen! Jehova hat diese Bibelstudien ohne Frage sehr gesegnet, denn viele der Teilnehmer brannten bald darauf, anderen von der guten Botschaft zu erzählen. Einmal sagte Pawel, dass jeder, der Verkündiger werden wollte, nach dem Studium dableiben sollte. Alle blieben — und alle wurden Verkündiger. Kurz danach gab es in der Stadt immer mehr Literaturstände, und auch an den Kiosken auf den Marktplätzen und in den Parks lag Literatur aus!

Dann wurde es Zeit, zu einer anderen Form des Predigens überzugehen: dem Haus-zu-Haus-Dienst. Aber wie sollte das funktionieren, wenn doch fast keiner der Verkündiger das jemals gemacht hatte? Wer lernen wollte, wie man von Haus zu Haus predigt, schloss sich dem Ehepaar Dimow im Dienst an. Und das waren oft nicht wenige. Manchmal ging Pawel mit 10 Verkündigern auf einmal an die Tür! Den Leuten schien das erstaunlicherweise nichts auszumachen und sie unterhielten sich gern mit der Gruppe! Einige baten die ganze Abordnung sogar herein.

Die neuen Verkündiger wollten schließlich auch in anderen Städten der Oblast Iwanowo predigen. Also wurden Predigtfahrten dorthin organisiert. Meist bestiegen 50 Personen den Zug und fingen bereits unterwegs mit dem Predigen an. Am Zielort teilten sie sich dann in Zweiergruppen auf und predigten in den Häuserblocks. Sie luden die Leute zu einer Zusammenkunft am Abend ein, bei der sie Videos von Jehovas Zeugen zeigten und ein Vortrag gehalten wurde. Danach boten sie allen Anwesenden ein Bibelstudium an. Wer sich dafür interessierte, konnte seine Adresse zurücklassen. Dank solcher Aktionen entstanden in den verschiedenen Städten in der Oblast Iwanowo jeweils bis zu 5 Versammlungen.

1994 gab es allein in der Stadt Iwanowo 125 Verkündiger und 1 008 kamen zum Gedächtnismahl. Noch im selben Jahr ließen sich auf dem Bezirkskongress 62 Personen aus Iwanowo taufen — damit war an einem Tag eine neue Versammlung hinzugekommen! Heute setzen sich in der Oblast Iwanowo 1 800 Verkündiger im Predigtwerk für Jehova ein.

KONGRESSE TROTZ HINDERNISSEN

In vielen Städten war es gar nicht so einfach, Stadien für Kongresse zu bekommen. Ein Beispiel: In Nowosibirsk hatten sich direkt vor dem Stadioneingang, und zwar mit Rückendeckung der Geistlichkeit, Demonstranten aufgestellt. Auf einem ihrer Schilder stand: „Achtung, Zeugen Jehovas!“ Dabei merkten die Demonstranten allerdings nicht, dass die letzten beiden Buchstaben des ersten Wortes verschmiert waren und auf dem Schild nun eigentlich zu lesen war: „Achtet Zeugen Jehovas!“

Auch in Omsk wurden den Brüdern Steine in den Weg gelegt, als sie 1998 in einem gemieteten Saal einen Kreiskongress abhalten wollten. Unter dem Druck von Gegnern hatten die Behörden den Saalverwalter dazu gezwungen, in letzter Minute einen Rückzieher zu machen. Doch zu dem Kongress waren bereits mehrere hundert Besucher angereist, die sich nun alle am Saal sammelten. Dem Verwalter wurde angst und bange um sich und seinen Saal und er flehte die Brüder an, die Leute davon abzuhalten, Gewalt anzuwenden. Die Brüder beruhigten ihn und sagten, dass niemand irgendjemand etwas zuleide tun würde. Die Kongressbesucher schossen lediglich in aller Ruhe ein paar Erinnungsfotos und gingen dann auseinander. Der Verwalter war nun überzeugt, dass Jehovas Zeugen friedliche Menschen sind. Zwei Wochen später fand der Kongress trotzdem statt — in einem anderen Saal. Die Gegner bekamen zu spät Wind davon und tauchten erst gegen Ende des Kongresses auf.

BEZIRKSKONGRESS „UNTERM STERNENHIMMEL“

Vom 22. bis 24. August 2003 war in der Stadt Stawropol (Kaukasien) einer der Bezirkskongresse in Gebärdensprache geplant. Dazu reisten Brüder aus 70 Städten in Russland an. Doch beinahe hätte der Kongress abgesagt werden müssen, da sich die Stadtverwaltung vehement dagegen stemmte und der Mietvertrag für den Saal, in dem der Kongress stattfinden sollte, einen Tag vor Kongressbeginn kurzerhand gekündigt wurde. Am nächsten Tag konnten die Brüder die Direktion eines Zirkus dazu bewegen, ihnen für den Kongress die Manege zu überlassen.

Das Programm fing um 15 Uhr an, aber kurz nach der Pause gab es einen Stromausfall. Alle blieben geduldig sitzen, bis der Strom eine Stunde später wieder da war und das Programm weitergehen konnte. Es endete um 21.30 Uhr.

Der zweite Kongresstag fing gleich um 9.30 Uhr mit einem Stromausfall an; kurz danach wurde auch noch das Wasser abgestellt. Wie sollten die Brüder ohne Licht und Wasser den Kongress fortsetzen? Gegen 10.50 Uhr beschloss das Kongresskomitee, alle Türen zu öffnen, da es ein sonniger Tag war. Dann stellten die Brüder auf der Straße große Spiegel auf, und zwar so, dass das Sonnenlicht in die Manege hineinleuchtete und der Redner angestrahlt wurde. Nun konnten zwar alle den Redner gut sehen, doch er selbst wurde von dem hellen Licht so geblendet, dass er kaum noch seine Notizen lesen konnte. Mithilfe weiterer Spiegel lenkten die Brüder das Sonnenlicht auf eine große Kugel mit Spiegeln in der Mitte der Zirkuskuppel. Die Manege wurde zu einem Meer flackernder Lichter, und jetzt konnten sich sowohl die Redner als auch alle anderen voll konzentrieren. Es wurde ein einmaliger Kongress „unterm Sternenhimmel“ — so beschrieben viele den Effekt der flackernden Lichter in der dunklen Zirkusarena.

Zwischendurch tauchte der Bürgermeister mit einigen weiteren Amtspersonen auf. Verblüfft sahen sie, dass die Zeugen den Kongress fortsetzten. Am meisten beeindruckte sie das Verhalten der Brüder: Keiner empörte oder beschwerte sich, alle waren voll auf das Programm konzentriert. Dem Leiter der Polizeidienststelle, der mit den Zeugen zuvor nicht gerade sanft umgegangen war, imponierte das dermaßen, dass er meinte: „In meinem tiefsten Innern bin ich auf eurer Seite, aber wir leben in einer Welt, die euch nicht mag.“

Nicht lange nachdem die Behördenvertreter weg waren, gab es auch wieder Strom. Obwohl es an den ersten beiden Tagen sehr spät geworden war, blieben auch am letzten Tag alle bis zum Schlussgebet sitzen. Die Besucherzahl war trotz der Hindernisse, die den Brüdern in den Weg gelegt wurden, von Tag zu Tag gestiegen: Am Freitag waren es 494, am Samstag 535 und am Sonntag 611! Im Schlussgebet ging aller Dank an Jehova, der diesen einmalig schönen Kongress möglich gemacht hatte. Alle gingen fröhlich auseinander, bestärkt in dem Entschluss, ihrem himmlischen Vater zu dienen und seinen Namen zu preisen.

GEHÖRLOSE PREISEN JEHOVA

Einige Gehörlose waren 1990 unter den Tausenden von Gästen aus der Sowjetunion auf dem Sonderkongress in Polen gewesen. Der Kongress hatte sie dazu motiviert, unter der gehörlosen Bevölkerung „Samen“ auszusäen und intensiv zu predigen. Schon 1992 war abzusehen, dass auch dieses Feld reif zur Ernte war und ‘die Ernte groß’ werden würde (Mat. 9:37). 1997 wurde die erste Versammlung in Gebärdensprache gegründet und im ganzen Land entstanden zahllose Gebärdensprachgruppen. 2002 wurde daraus der erste Kreis gebildet — geographisch gesehen der größte Kreis weltweit! 2006 betrug das Verhältnis im Gebärdensprachgebiet 1:300, wohingegen es sonst im Land bei 1:1 000 lag.

Nun brauchte man qualitativ gute Übersetzungen in die Gebärdensprache. Und so fing der russische Zweig 1997 mit der Übersetzung in die Gebärdensprache an. Jewdokija, eine gehörlose Schwester, die zum Übersetzerteam gehört, beschreibt, was sie dabei empfindet: „Für mich ist es ein besonderes Geschenk, im Bethel mitzuarbeiten und unsere Publikationen in die Gebärdensprache zu übersetzen. In der Welt traut man Gehörlosen nichts zu und hält sie für minderwertig. Aber in Gottes Organisation ist alles anders: Zum einen erlebe ich, dass Jehova es uns Gehörlosen zutraut, die Wahrheit in unserer Sprache weiterzugeben. Zum anderen fühlen wir uns von Jehovas Volk angenommen und sind froh und dankbar, zu so einer großen Familie zu gehören.“

DIE GUTE BOTSCHAFT IN ALLEN SPRACHEN

Die klar dominierende Sprache im Handel und Bildungswesen der Sowjetunion war zwar Russisch, doch wurden noch ungefähr 150 weitere Sprachen gesprochen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in 15 Länder (1991) wurde das Interesse an der Wahrheit innerhalb dieser Sprachgruppen immer größer — vor allem in den Ländern, die gerade unabhängig geworden waren. Wie in Offenbarung 14:6 angekündigt, wurden geballte Anstrengungen unternommen, um in diesem riesigen Gebiet Menschen aus „jeder Nation und jedem Stamm und jeder Zunge und jedem Volk“ mit der Wahrheit bekannt zu machen. Damit die Zehntausenden von Neuen mit geistiger Speise versorgt sind, ist es nötig geworden, den Wachtturm in 14 weiteren Sprachen herzustellen. Für all die Gebiete, wo diese Sprachen gesprochen werden, ist das Zweigbüro in Russland zuständig. Das russische Zweigbüro betreut die Übersetzung in über 40 Sprachen. Auf diese Weise wird die Botschaft der Bibel noch besser verbreitet und kann die Menschen eher und tiefer berühren.

Die meisten dieser Sprachen werden innerhalb der Russischen Föderation gesprochen. So hört man auf den Straßen von Beslan und Wladikawkas Ossetisch, in der Gegend rund um den Baikalsee Burjatisch (eine mongolische Sprache), bei den Rentierzüchtern und anderen Einwohnern des Fernen Ostens Jakutisch (eine altaische Sprache aus der Untergruppe der Turksprachen) und in Kaukasien etwa 30 weitere Sprachen. Neben Russisch ist Tatarisch die am meisten gesprochene Sprache und wird von über 5 Millionen Menschen gesprochen, insbesondere in Tatarstan.

Nur wenige Tatarischsprachige möchten Literatur in Russisch, aber sie lesen oft gern unsere Literatur in Tatarisch. Zwei Beispiele: Eine Frau, die auf dem Land lebt, erhielt im Zuge einer Traktataktion die Königreichs-Nachrichten Nr. 35 und bat danach schriftlich um die Erwartet-Broschüre in Tatarisch. Eine Schwester schrieb ihr einen Brief und legte die Broschüre bei. Daraufhin schrieb ihr die Frau einen begeisterten achtseitigen Brief zurück. Von da an studierte sie die Bibel mithilfe der Publikationen in Tatarisch. Das andere Beispiel: Ein Mann bekam die Broschüre Kümmert sich Gott um uns? in Tatarisch und erklärte, er würde seitdem die Welt mit anderen Augen sehen. All das nur dank der Literatur in Tatarisch!

Eine auf dem Land lebende Frau, die Marijisch spricht, erhielt ebenfalls die Königreichs-Nachrichten Nr. 35 und wollte gern mehr über die Wahrheit wissen. Doch wo sie lebte, gab es keine Zeugen Jehovas. Als sie einmal in die Stadt kam, nahm sie gleich Kontakt zu den Zeugen auf. Sie erhielt das Erkenntnis-Buch und andere Publikationen in Russisch. Die Frau studierte sie ganz allein durch, fing daraufhin an, in ihrer Gegend zu predigen und studierte bald mit einer Gruppe Interessierter. Dann hörte sie, dass in Ischewsk ein Tagessonderkongress stattfinden würde. Sie fuhr hin, in der Hoffnung, sich taufen lassen zu können. Die Brüder dort erklärten ihr jedoch, dass man zuvor die Bibel erst gründlich studiert haben muss, und sorgten dafür, dass ihr in dieser Hinsicht weitergeholfen wurde. Alles hatte damit angefangen, dass sie die Königreichs-Nachrichten in ihrer Muttersprache lesen konnte.

In Wladikawkas gab es nur eine einzige ossetischsprachige Versammlung und auf Kreis- oder Bezirkskongressen wurde kein Vortrag ins Ossetische gedolmetscht. Das war 2002 zum ersten Mal anders. Die ossetischen Brüder waren überglücklich. Selbst wer Russisch gut konnte, sagte, es habe ihn tief berührt, die Wahrheit in seiner Muttersprache zu hören. Das wirkte sich nachhaltig auf den Glauben der Versammlung aus und zog viele Osseten zur Wahrheit hin. 2006 bildete man in Ossetien einen Kreis und hielt die ersten Kreiskongresse in Ossetisch ab.

In dem abgelegenen Dorf Aktasch (Republik Altai) waren einmal reisende Aufseher zu Besuch. Die Gruppe bestand aus einer Handvoll Verkündiger, dennoch versammelten sich zum öffentlichen Vortrag in einer Wohnung ungefähr 30 Personen. Zuerst hörten alle zu, aber als der Bezirksaufseher seinen Dienstvortrag hielt, ging etwa die Hälfte weg. Nach der Zusammenkunft fragte der Bezirksaufseher die Brüder, warum so viele gegangen waren. Eine ältere, altaische Frau sagte in gebrochenem Russisch: „Sie tun ein wichtiges Werk. Aber ich habe so gut wie nichts verstanden!“ Beim nächsten Besuch des Kreisaufsehers wurden alle Vorträge gedolmetscht und diesmal blieb jeder bis zum Schluss.

In Woronesch gibt es viele ausländische Studenten. Im Jahr 2000 kam ein Chinesisch sprechender Dienstamtgehilfe auf die Idee, Chinesischunterricht zu geben. Viele Zeugen erkannten, dass hier ein Bedarf war, lernten Chinesisch und predigten dann den chinesischen Studenten. Die Sprache ist zwar schwierig, aber die Brüder gaben nicht auf. Ab Februar 2004 gab es das erste chinesische Buchstudium, im April den ersten chinesischen Täufling und zwei Monate später einen weiteren. Mittlerweile haben die Brüder dort um die 15 Bibelstudien in Chinesisch und viele Interessierte kommen regelmäßig ins Buchstudium. So breitet sich die gute Botschaft in alle Teile des riesigen Russlands aus. Und der russische Zweig ist bemüht, der Nachfrage an weiterer Literatur in noch mehr Sprachen nachzukommen.

SCHULEN FÜR PIONIERE

Seit einigen Jahren gibt es in Russland die Pionierdienstschule. In jeder Klasse sind meist 20 bis 30 Pioniere aus der Umgebung, die nicht so lange Anfahrtswege haben. Anfangs war das allerdings nicht so. Roman Skiba erzählt: „Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir eine Pionierdienstschule in Jekaterinburg im Jahr 1996. In der Klasse waren über 40 Brüder und Schwestern, die zum Teil Hunderte von Kilometern weit gereist waren, manche sogar bis zu tausend Kilometer.“

Swetlana ist seit 1997 allgemeine Pionierin im Gebärdensprachgebiet. Im Januar 2000 besuchte sie die Pionierdienstschule in Gebärdensprache. Dort lernte sie, ihre Dienstqualität zu verbessern, und bekam ein klareres Bild davon, wie sie in der Familie und in der Versammlung die Grundsätze der Bibel noch besser umsetzen kann. Sie sagt: „Meine Liebe zu anderen ist größer geworden. Mir ist auch bewusst geworden, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den Brüdern und Schwestern ist, und ich bin jetzt ganz offen für Ratschläge. Seit der Schule verwende ich bei Bibelstudien auch Veranschaulichungen. Dadurch ist die Qualität der Studien viel besser geworden.“

Aljona ist Pionierin in Chabarowsk, einer Stadt im Fernen Osten, und versucht dort, Gehörlosen die Wahrheit zu vermitteln. Um das noch besser zu lernen, wollte sie gern die Pionierdienstschule in Gebärdensprache besuchen. Was für Hürden standen ihr im Weg? Sie sagt: „Die nächste Pionierdienstschule in Gebärdensprache fand in Moskau statt, das war 9 000 Kilometer von uns weg. Ich brauchte 8 Tage mit dem Zug hin und 8 Tage zurück.“ Aber sie bereute es keine Sekunde lang!

Zwischen 1996 und 2006 gab es außer in Gebärdensprache Hunderte solcher Schulen in Russland. Diese Schulen trugen direkt zur Ausbreitung des Predigtwerks und zum Wachstum in den Versammlungen bei. Marcin, der derzeit als Kreisaufseher dient, erinnert sich zurück: „1995 kam ich als Sonderpionier in die Versammlung Kunzewo in Moskau. Als ich zum öffentlichen Vortrag und zum Wachtturm-Studium ging, kam ich mir vor wie auf einem Kongress. Es waren ungefähr 400 Leute im Saal. Die Versammlung hatte damals 300 Verkündiger. Nach nicht einmal 10 Jahren waren aus dieser Versammlung 10 neue entstanden!

1996/97 habe ich im Kreis ein phänomenales Wachstum miterlebt. Als ich nach 6 Monaten wieder eine Versammlung in Wolschski (Oblast Wolgograd) besuchte, waren in der Zwischenzeit 75 neue Verkündiger dazugekommen — sozusagen eine komplette neue Versammlung! Die neuen Verkündiger hatten einen unbeschreiblichen Eifer. Zu den Zusammenkünften für den Predigtdienst in einer Wohnung in einem mehrstöckigen Haus kamen oft bis zu 80 Personen. Sie passten gar nicht alle in die Wohnung und viele mussten im Hausflur und im Treppenhaus stehen.“

JUNGE MENSCHEN PREISEN JEHOVA

Viele junge Menschen interessieren sich für die Botschaft vom Königreich, obwohl ihre Eltern dagegen sind. Eine 22-jährige Schwester erzählt: „1995 wurden meine Eltern von Zeugen Jehovas besucht, aber sie nahmen die Wahrheit nicht an. Ich war damals 9 Jahre alt und wollte gern mehr über Gott wissen. Zum Glück fing eine Schulfreundin an, die Bibel zu studieren, und ich durfte mitmachen. Als meine Eltern das mitbekamen, verboten sie mir den Kontakt zu den Zeugen. Manchmal schlossen sie mich allein in der Wohnung ein, damit ich nicht zum Studium gehen konnte. Das ging so lange, bis ich volljährig war. Danach besuchte ich eine Schule in einer anderen Stadt und zog weg. Dort bekam ich erneut Kontakt zu den Zeugen und mein Bibelstudium lief wieder an. Ich war so glücklich! Ich lernte Jehova mit ganzem Herzen lieben, ließ mich auf dem Bezirkskongress im Jahr 2005 taufen und fing gleich danach mit dem Hilfspionierdienst an. Heute stehen meine Eltern all dem, was mir als Kind schon so lieb und teuer war, positiv gegenüber.“

Eine andere Schwester erzählt ihre Geschichte: „1997 bekam ich von Zeugen Jehovas ein Erwachet!. Ich war damals 15 und fand den Namen der Zeitschrift und die Artikel wirklich gut. Ich wollte sie gern regelmäßig lesen. Doch als mein Vater sah, was ich las, durften mich die Zeugen nicht mehr besuchen. Einige Zeit später fing meine Cousine ein Bibelstudium an und ab 2002 ging ich mit ihr in die Zusammenkünfte in den Königreichssaal. Dort hörte ich, dass manche Zeugen Jehovas Missionare sind, und der Wunsch, Gott anderen näherzubringen, wurde in mir sehr stark. Meine Cousine erklärte mir allerdings, dass ich dazu erst einmal mit dem Rauchen aufhören und mein Leben nach dem Willen Gottes ausrichten müsste, damit ich ihm dienen kann. Das nahm ich mir zu Herzen. 6 Monate später ließ ich mich taufen und wurde gleich danach Hilfspionierin. Ich bin glücklich, einen echten Lebensinhalt gefunden zu haben.“

AUF DER SUCHE NACH DEN „BEGEHRENSWERTEN DINGEN“ IN JAKUTIEN

Ein Kreis in Russland umfasst die Oblast Amur und ganz Jakutien. Im Dienstjahr 2005 gab es in Jakutiens Hauptstadt Jakutsk erstmals einen Kreis- und einen Tagessonderkongress, und es war vor allem schön, auf diesen Kongressen viele aus der einheimischen Bevölkerung zu sehen.

Um den Brüdern entgegenzukommen, wurde der Kreis in 5 Teile aufgeteilt, und jeder Teil hatte seinen eigenen Kongress. Von dem einen Kongress zum anderen waren die reisenden Aufseher 24 Stunden im Zug, 15 Stunden im Auto und 3 Stunden im Flugzeug unterwegs.

Die Winter sind in dieser Gegend sehr kalt. Mitunter wird es 50 Grad minus oder sogar noch kälter. Trotzdem gehen die Verkündiger im Predigtdienst auch zu den kleineren Häusern, nicht nur in die mehrstöckigen Häuser.

Anfang 2005 wurden zwei Verkündigergruppen gegründet, eine davon in dem Dorf Chajyr. Es liegt in rund 80 Kilometer Entfernung von der Laptewsee oberhalb des nördlichen Polarkreises und hat rund 500 Einwohner, darunter 4 Zeugen. Doch 2004 kamen zum Gedächtnismahl 76 Personen! Um in das Dorf zu kommen, muss der Kreisaufseher erst 900 Kilometer mit dem Flugzeug zurücklegen und dann 450 Kilometer mit dem Auto auf schneebedeckten Straßen.

Die andere Gruppe wurde in dem abgelegenen Dorf Ust-Nera gegründet, 100 Kilometer von dem Dorf Oimjakon entfernt. Dort fällt das Thermometer im Winter nicht selten auf 60 Grad minus. Zum Kreiskongress im vergangenen Jahr fuhren die Verkündiger dieser Gruppe mit zwei Autos hin und zurück 4 000 Kilometer — zumeist durch abgelegene, unbewohnte Gegenden bei 50 Grad minus.

Ein Kreisaufseher erzählt von einem interessanten Erlebnis in 4 000 Meter Höhe: „Während der Aktion mit der Broschüre Wachsamkeit dringend nötig! fanden im Kreis auch einige Kongresse statt. Der Bezirksaufseher und ich flogen gerade zum nächsten Kongress. Leider waren uns beiden die Broschüren ausgegangen und deshalb boten wir der Flugbegleiterin die Broschüre Was erwartet Gott von uns? an. Sie erklärte uns, dass sie schon etwas zum Lesen bekommen habe und zeigte uns zu unserer Überraschung die Wachsamkeits-Broschüre. Wir freuten uns sehr, dass unsere Brüder so fleißig gewesen waren! Während der Unterhaltung kam der Kopilot vorbei und schaltete sich interessiert ins Gespräch ein. Wir unterhielten uns fast den ganzen Flug über mit ihm. Ihm gefiel das Gespräch und er nahm für den Rest der Crew mehrere Zeitschriften mit ins Cockpit.“

DIE GUTE BOTSCHAFT AUF SACHALIN

Auf Sachalin, einer Insel oberhalb von Hokkaido, der nördlichsten Insel Japans, gibt es Zeugen Jehovas seit Ende der 1970er-Jahre. Die Brüder, die damals das Predigtwerk rund um Wladiwostok betreuten, spornten Sergej Sagin an, auf die Insel zu ziehen, um dort mehr im Predigtdienst tun zu können. Er arbeitete im Hafen und versuchte, mit den Hafenarbeitern ins Gespräch über die Bibel zu kommen. Nach kurzer Zeit hatte er mehrere Bibelstudien. Zwar musste er später wegziehen, doch die Samen der Wahrheit trugen schließlich Früchte.

Durch die Kongresse in Polen 1989/90 fühlten sich viele Zeugen in Russland motiviert, mehr zu tun und in Gebiete zu ziehen, wo dringend Verkündiger benötigt wurden. So zogen Sergej Awerin und seine Frau Galina 1990 von Chabarowsk im Fernen Osten nach Korsakow auf Sachalin. Ein paar Monate danach zogen zwei Pioniere und einige Verkündiger nach Juschno-Sachalinsk, wo es bis dahin nur eine Zeugin gab.

Pawel Siwulskij (der Sohn des bereits erwähnten Pawel Siwulskij und einer der beiden Pioniere) ist heute im Bethel. Hier sein Rückblick: „In Juschno-Sachalinsk wohnten wir zunächst in einem Hotel, weil wir nicht gleich eine Wohnung hatten. Wir fingen direkt neben dem Hotel mit dem Haus-zu-Haus-Dienst an und fragten die Leute im Lauf des Gesprächs, ob sie jemand wüssten, der etwas vermieten würde. Viele Menschen fragten uns, wo sie sich weiter mit uns über die Bibel unterhalten könnten. Wir mussten ihnen dann immer sagen, dass wir in einem Hotel wohnten, ihnen jedoch Bescheid geben würden, sobald wir eine Wohnung gefunden hätten. Wir beteten inständig zu Jehova, uns bei der Suche nach Arbeit und Wohnung zu helfen. Und Jehova erhörte uns. Es dauerte nicht lange und wir hatten Arbeit und eine Bleibe. Eine Frau hatte uns angeboten, bei ihr zu wohnen. Sie nahm keine Miete und übernahm sogar das Kochen für uns. Dadurch hatten wir mehr Zeit für den Predigtdienst. Wir spürten Jehovas Rückhalt. Bald hatten wir viele Bibelstudien und gründeten verschiedene Buchstudiengruppen. Zwei Monate später konnten wir ein Haus mieten und dort Zusammenkünfte abhalten!“

Die Versammlung wuchs und viele neue Verkündiger wurden Pionier. Sie hatten einen enormen Pioniergeist und zogen in andere Regionen der Insel, um die Bewohner dort ebenfalls mit der Wahrheit bekannt zu machen. Jehova hat den eifrigen Einsatz dieser schnell wachsenden Versammlung sehr gesegnet, denn 3 Jahre später, im Jahr 1993, waren aus ihr bereits 8 neue Versammlungen entstanden!

Mit der Zeit verließen viele Verkündiger die Insel wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Eine ganze Reihe konnte auch ihren Dienst ausdehnen. Ihre Bemühungen wurden erneut mit Wachstum belohnt! Mittlerweile steht im Stadtzentrum von Juschno-Sachalinsk ein hübscher Königreichssaal. Auf der Insel gibt es jetzt 9 Versammlungen und 4 Gruppen, die alle zusammen einen Kreis bilden.

TROTZ VIELER GEGNER ÖFFNET SICH DIE TÜR

Im 1. Jahrhundert sagte der Apostel Paulus: „Eine große Tür, die zur Tätigkeit führt, hat sich mir geöffnet, doch gibt es viele Gegner“ (1. Kor. 16:9). 2 000 Jahre später ist die Zahl der Gegner nicht geringer geworden. Zwischen 1995 und 1998 strengte die Moskauer Staatsanwaltschaft 4-mal einen Strafprozess gegen Jehovas Zeugen an. Man warf ihnen vor, zur religiösen Intoleranz anzustacheln, Familien zu zerstören, sich staatsfeindlich zu betätigen und die Rechte anderer Bürger zu verletzen. Alle diese Anschuldigungen waren haltlos und konnten nicht bewiesen werden. Deshalb strengte man 1998 gegen Jehovas Zeugen, gestützt auf dieselben Vorwürfe, einen Zivilprozess an.

Ungefähr ein Jahr später wurde das Werk der Zeugen Jehovas in Russland vom Justizministerium erneut registriert. Damit wurde anerkannt, dass weder Jehovas Zeugen noch ihre Literatur zu religiösem Hass anstiften oder Familien auseinanderreißen und Menschenrechte verletzen. Dennoch führte die Staatsanwaltschaft weiterhin dieselben Vorwürfe ins Feld!

Einigen Professoren für Religionswissenschaften ist bewusst, dass die Glaubensansichten der Zeugen Jehovas ausschließlich auf der Bibel basieren. Dazu ein Kommentar von Dr. Gordijenko, Professor für Religionswissenschaften an der Russischen Staatlichen Pädagogischen Herzen-Universität in Sankt Petersburg: „Wenn die Experten Jehovas Zeugen wegen ihrer Lehren anklagen, merken sie nicht, dass sie in Wirklichkeit Anklagen gegen die Bibel vorbringen.“

Trotz alledem entschied das Moskauer Stadtgericht, der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in Moskau ihren rechtlichen Status abzusprechen. Das hindert unsere Brüder allerdings nicht daran, dem biblischen Gebot nachzukommen, die gute Botschaft zu predigen. Nach Auffassung der Zeugen Jehovas müssen die Einwohner Moskaus selbst entscheiden, was sie glauben möchten. Ihnen dieses Recht zu beschneiden wäre eine Verletzung der Rechte von jedem Einwohner Moskaus. Darum halten sich die Zeugen in Moskau auch in Zukunft an das Gebot Jesu Christi, zu predigen und Jünger zu machen (Mat. 28:19, 20). Gegenwärtig prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil des Moskauer Stadtgerichts.

Als die ersten Verhandlungen mit dem Ziel, die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in Moskau aufzulösen, im September 1998 anliefen, gab es dort 43 Versammlungen. Acht Jahre später waren es 93! Jehova hat seinem Volk versprochen: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben“ (Jes. 54:17). 2007 hielten Jehovas Zeugen im Moskauer Luschniki-Stadion, ehemals Schauplatz der Olympischen Spiele, ihren Bezirkskongress ab. Es kamen 29 040 Personen und 655 ließen sich taufen.

GOTTES NAME IST GROSS IN RUSSLAND

Wie in Maleachi 1:11 nachzulesen ist, sagte Jehova Gott: „Vom Aufgang der Sonne selbst bis zu ihrem Untergang wird mein Name groß sein unter den Nationen“. Mit jedem neuen Sonnenaufgang können im großen, weiten Russland noch Menschen gefunden werden, die Jehova suchen. Allein im letzten Dienstjahr ließen sich über 7 000 Personen taufen. Damit ist nicht von der Hand zu weisen, dass der „Zar der Zaren“, wie Jesus Christus in der russischen Bibel genannt wird, seine Untertanen bei diesem Werk begleitet (Mat. 24:14; Offb. 19:16).

„Jehovas Tag wird kommen wie ein Dieb“, sagte der Apostel Petrus (2. Pet. 3:10). Jehovas Volk in Russland ist daher entschlossen, die verbleibende Zeit gut zu nutzen, um aufrichtige Menschen aus allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern ausfindig zu machen.

[Fußnoten]

^ Abs. 44 Eine Oblast ist ein größeres Verwaltungsgebiet.

^ Abs. 353 Siehe den Artikel „Die Altaier — ein Volk, das wir lieben lernten“ im Erwachet! vom 22. Juni 1999.

[Herausgestellter Text auf Seite 110]

„Wenn wir auch nur das Geringste gegen euch gefunden hätten und wenn ihr nur einen einzigen Tropfen Blut vergossen hättet — wir hätten euch alle erschossen“

[Herausgestellter Text auf Seite 128]

„Wenn wir Ihnen freie Hand lassen, werden viele Sowjetbürger zu Ihnen überlaufen. Darum hält Sie der Staat für eine ernste Bedrohung.“

[Herausgestellter Text auf Seite 19]

„Ihre Leute stürzen sich wie die Vögel auf die Literaturkartons und holen sie gleich weg“

[Kasten/Bild auf Seite 69]

Sibirien

Was assoziiert man mit Sibirien? Raue, wilde Landschaften und bitterkalte Winter? Triste Einöden, in die alle verbannt wurden, die der Sowjetregierung unbequem waren? Es stimmt, das alles ist Sibirien — aber Sibirien ist noch viel mehr.

Diese riesige Region ist größer als das zweitgrößte Land der Erde (Kanada) und umfasst über 13 Millionen Quadratkilometer. Sie erstreckt sich vom Ural ostwärts bis zum Pazifik und vom Nordpolarmeer südwärts bis zur Mongolei und China. Sie ist reich an Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas und Nutzholz. Hier gibt es Gebirge, Steppen, Sümpfe, Seen und gewaltige Flüsse.

Gut 150 Jahre lang war Sibirien Verbannungsort für Gefangene und Zwangsarbeiter. Während der 1930er- und 1940er-Jahre ließ Stalin Millionen Menschen dorthin in Arbeitslager deportieren. 1949 und 1951 kamen um die 9 000 Zeugen Jehovas aus Moldawien, dem Baltikum und der Ukraine nach Sibirien in die Verbannung.

[Kasten/Bilder auf Seite 72, 73]

Kurzinformation

Landesnatur:

Als größtes Land der Erde erstreckt sich Russland circa 7 700 Kilometer von Ost nach West und etwa 3 000 Kilometer von Nord nach Süd. Insgesamt bedeckt es eine Fläche von 17 075 400 Quadratkilometern und umspannt damit nahezu die Hälfte der Nordhalbkugel. Kein Wunder, dass es in dem Land 11 Zeitzonen gibt! Hier liegen auch der höchste Berg und der längste Fluss Europas sowie der tiefste See der Erde.

Bevölkerung:

80 Prozent sind Russen. Es gibt hier jedoch noch über 70 andere Volksgruppen, deren Angehörige nur einige Tausend oder aber über eine Million zählen.

Landessprache:

Die Amtssprache ist Russisch und wird praktisch von allen Bürgern des Landes gesprochen. Daneben gibt es über 100 weitere Sprachen; manche werden von annähernd einer Million Menschen gesprochen.

Wirtschaft:

Russland gehört zu den führenden Erdöl- und Erdgasförderländern der Welt. Weitere wichtige Industriezweige sind die Forstwirtschaft, der Bergbau und die Güterproduktion.

Typische Kost:

Hier isst man herzhafte Speisen mit Fleisch, Fisch, Kohl oder einer Art Quark und als Beilage dunkles Roggenbrot, Kartoffeln und Buchweizen. Die russische Küche ist fett- und kohlenhydrathaltig, damit man die langen, kalten Winter gut übersteht. Typische Gerichte sind Pelmeni (mit Fleisch gefüllte Teigtaschen), die in einer Brühe oder mit saurer Sahne gereicht werden, und Piroschki oder Piroggen (kleine Pasteten), gefüllt mit Kohl, Fleisch, Käse oder Kartoffeln. Beliebt sind auch Borschtsch (Rote-Rüben-Suppe) und Schtschi (Kohlsuppe).

Klima:

Bei den Jahreszeiten dominieren heiße Sommer und kalte, dunkle Winter, wobei Frühling und Herbst nur kurz ausfallen.

(Karten von Russland auf Seite 116, 117 und 167)

[Bilder]

Der Kreml

Der Elbrus (Kabardino-Balkarien)

Braunbär (Halbinsel Kamtschatka)

[Kasten auf Seite 92, 93]

Ein Kampf um Herz und Sinn

Die Sowjetregierung hatte nicht vor, die Zeugen auszurotten. Sie wollte sie vielmehr für die Sowjetideologie gewinnen — entweder durch Überzeugungsarbeit oder mit Gewalt. Dazu setzte sie ihren Geheimdienst, den KGB, ein, der unter anderem mit folgenden Methoden arbeitete:

Durchsuchungen: Die Hausdurchsuchungen fanden sogar nachts statt und wurden häufig wiederholt. Einige Familien waren genötigt, den Wohnort zu wechseln.

Bespitzelungen: Telefongespräche wurden abgehört, Briefe abgefangen, Abhörgeräte eingebaut.

Geldstrafen, Auflösung von Zusammenkünften: Immer wieder fand man heraus, wo die Brüder Zusammenkünfte abhielten. Alle Anwesenden bekamen Geldstrafen, die oftmals mindestens die Hälfte eines durchschnittlichen Monatslohns ausmachten.

Bestechung, Erpressung: Im Fall der Zusammenarbeit versprach der KGB einigen Brüdern Autos oder Wohnungen im Herzen Moskaus. Im gegenteiligen Fall drohte er oft mit jahrelanger Zwangsarbeit in Straflagern.

Propaganda: Ob im Film, im Fernsehen oder in der Zeitung — die Zeugen wurden stets als Gefahr für die Gesellschaft dargestellt. Selbst in den Gefängnissen und Arbeitslagern wurden Vorträge gehalten, in denen behauptet wurde, die Zeugen würden die Bibel nur als Deckmantel für politische Kampagnen benutzen. Die Propaganda fruchtete. In der Schule wurden Kinder diskriminiert und erhielten schlechtere Noten, am Arbeitsplatz wurde unseren Brüdern der Urlaub oder ihnen zustehende Sozialleistungen verwehrt.

Unterwanderung: KGB-Agenten gaben vor, an der Bibel interessiert zu sein, studierten und ließen sich taufen. Einige legten es sogar darauf an, verantwortungsvolle Aufgaben innerhalb der Organisation zu übernehmen. Ihr Ziel: Misstrauen und Zwietracht unter den Zeugen säen und so das Predigtwerk stoppen.

Verbannung: Man deportierte die Zeugen in die entlegensten Winkel des Landes. Dort mussten die Brüder 12 Stunden am Tag hart arbeiten, um das Allernötigste zum Leben zu haben. Im Winter mussten sie die bittere Kälte aushalten, im Sommer die vielen Mücken und Bremsen.

Beschlagnahmung, Familientrennung: Beschlagnahmt wurden Grundbesitz, Häuser, Wohnungen und sonstiges Hab und Gut. Manchmal nahm man den Eltern ihre Kinder weg.

Spott, Hiebe: Viele Zeugen, auch Frauen, wurden beschimpft und verspottet. Einige wurden brutal geschlagen.

Inhaftierung: Ziel war, die Zeugen dazu zu bringen, ihren Glauben aufzugeben, oder sie von ihren Glaubensbrüdern zu isolieren.

Arbeitslager: Viele Brüder gerieten an den Rand der völligen Erschöpfung. Oft mussten sie das Wurzelwerk gewaltiger Bäume ausgraben. Sie arbeiteten auch in Kohlenbergwerken oder im Straßen- und Eisenbahnbau und lebten fernab von der Familie in Baracken.

[Kasten/Bild auf Seite 96, 97]

Ich bekam zweimal die Todesstrafe

PJOTR KRIWOKULSKIJ

GEBURTSJAHR: 1922

TAUFE: 1956

KURZPORTRÄT: Besuchte ein Priesterseminar, bevor er die Wahrheit kennenlernte. Verbrachte 22 Jahre in Gefängnissen und Arbeitslagern. Starb im Jahr 1998.

IM Jahr 1940 predigten polnische Zeugen an meinem Wohnort in der Ukraine. Zu mir kam Kornej, ein gesalbter Bruder. Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch. Danach war ich überzeugt, dass er mir die Wahrheit über Gott sagte.

Als 1942 deutsche Truppen anrückten, zogen sich die sowjetischen Streitkräfte aus meiner Gegend zurück. Es herrschte Anarchie. Ukrainische Partisanen verlangten von mir, dass ich mit ihnen zusammen gegen die Deutschen und die Sowjets kämpfte. Weil ich nicht mitmachte, schlugen sie mich, bis ich bewusstlos war, und warfen mich dann auf die Straße. Noch am selben Abend holten sie mich wieder und brachten mich zu einem Hinrichtungsplatz. Sie fragten mich, ob ich jetzt bereit wäre, dem ukrainischen Volk zu dienen. Ich erklärte ihnen laut und deutlich: „Ich diene nur Jehova Gott!“ Darauf verurteilten sie mich zum Tod. Einer der Soldaten gab gerade den Befehl, mich zu erschießen, da griff ein anderer nach dem Gewehr und schrie: „Nicht schießen! Der Mann könnte uns noch nützlich sein.“ Daraufhin schlug ein anderer voller Wut auf mich ein und schwor mir, er werde mich noch innerhalb der nächsten Woche höchstpersönlich erschießen. Doch nur wenige Tage später war er selbst tot.

Im März 1944 kamen die Sowjets zurück und nahmen alle Männer mit, auch mich, denn diesmal brauchte die Rote Armee Soldaten. Wir wurden alle versammelt, und ich sah Kornej, der mich ja mit der Wahrheit bekannt gemacht hatte, und dazu noch 70 andere Brüder. Wir stellten uns als Gruppe etwas abseits und machten uns gegenseitig Mut. Ein Offizier fragte uns, warum wir abseits standen. Kornej erklärte ihm, dass wir alle Christen seien und keinen Kriegsdienst leisten würden. Da nahmen sie Kornej auf der Stelle mit und sagten uns, man würde ihn erschießen. Wir sahen ihn nie wieder. Dann drohten sie, uns alle zu erschießen, und fragten noch einmal jeden Einzelnen von uns, ob wir nicht doch in ihre Armee eintreten wollten. Als ich mich weigerte, wurde ich von drei Soldaten und einem Offizier in den Wald gebracht. Der befehlshabende Offizier verlas das Urteil des Standgerichts: „Wegen der Weigerung, Uniform zu tragen und Kriegsdienst zu leisten: Tod durch Erschießen.“ Ich betete aus tiefstem Herzen zu Jehova und fragte mich, ob er meinen Dienst für ihn überhaupt annehmen würde, denn ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mich taufen zu lassen. Plötzlich hörte ich den Befehl: „Feuer!“ Doch die Soldaten schossen in die Luft. Der Offizier prügelte daraufhin auf mich ein. Ich wurde zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt und landete in einem russischen Arbeitslager in der Oblast Gorki.

1956 kam ich frei und heiratete Regina, eine treue Zeugin. Wir waren gerade einmal 6 Monate verheiratet, da wurde ich urplötzlich erneut festgenommen und zu 10 Jahren Haft verurteilt.

Als ich dann endlich wieder entlassen wurde, sagte einer der Funktionäre zu mir: „Für dich ist auf sowjetischem Boden kein Platz.“ Wie falsch er da lag! Es ist so schön zu wissen, dass der Erdboden Jehova gehört und dass er allein bestimmt, wer für immer darauf leben wird (Ps. 37:18).

[Kasten/Bild auf Seite 104, 105]

„Ist eine von euch vielleicht Zeugin Jehovas?“

JEWGENIJA RYBAK

GEBURTSJAHR: 1928

TAUFE: 1946

KURZPORTRÄT: Geboren in der Ukraine; wurde nach Deutschland deportiert und lernte dort die Wahrheit kennen. Dient Jehova nach wie vor treu in Russland.

AN EINEM Sonntag hörte ich von draußen melodisches Singen. Es waren Zeugen Jehovas. Kurz danach besuchte ich ihre Zusammenkünfte. Es war mir unbegreiflich, dass Deutsche ihre eigenen Landsleute verfolgten, nur weil sie einen anderen Glauben hatten. Für meinen Kontakt zu Deutschen hatten meine ukrainischen Freunde, die mit mir nach Deutschland deportiert worden waren, überhaupt kein Verständnis. Eine schrie mich sogar an und schlug mir ins Gesicht. Von da an machten sich meine damaligen Freundinnen über mich nur noch lustig.

Nach meiner Freilassung 1945 kehrte ich in die Ukraine zurück. Mein Großvater sagte: „Deine Mama hat den Verstand verloren. Sie hat ihre Ikonen weggeworfen und hat jetzt irgendeinen anderen Gott.“ Als Mama und ich allein waren, holte sie die Bibel heraus und las mir vor, dass Gott Götzenbilder hasst. Dann erzählte sie mir, dass sie zu den Zusammenkünften der Zeugen Jehovas geht. Ich fiel ihr um den Hals und sagte leise mit Tränen in den Augen: „Liebe Mama, ich bin auch eine Zeugin Jehovas!“ Uns beiden liefen die Freudentränen nur so herunter.

Mama war eifrig im Predigtdienst. Da fast alle Brüder Lagerhaft bekommen hatten, wurde sie sogar Gruppendiener. Ihr Eifer steckte auch mich an.

1950 wurde ich wegen „religiöser Umtriebe“ festgenommen und zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ich kam zusammen mit vier anderen Schwestern nach Ussolje-Sibirskoje, einer Stadt in Sibirien, wo wir ab April 1951 im Eisenbahnbau arbeiteten. Wir schleppten zu zweit schwere Eisenbahnschwellen und verlegten eigenhändig 10 Meter lange metallene Schienengleise, die je 320 Kilogramm wogen. Es war Schwerstarbeit. Einmal schleppten wir uns völlig erschöpft von der Arbeit zurück ins Lager, da hielt neben uns ein Zug mit lauter Gefangenen an. Ein Mann lehnte sich heraus und rief: „Ist eine von euch vielleicht Zeugin Jehovas?“ Unsere Erschöpfung war wie weggeblasen. „Wir sind hier zu fünft“, riefen wir zurück. Die Gefangenen waren doch tatsächlich unsere lieben Brüder und Schwestern, die man aus der Ukraine nach Sibirien verbannt hatte! Der Zug machte eine Weile halt, und sie erzählten uns aufgeregt, was passiert war und wie man sie deportiert hatte. Die Kinder trugen uns Gedichte vor, die die Brüder selbst verfasst hatten. Sogar die Soldaten ließen uns erstaunlicherweise in Ruhe, so konnten wir etwas zusammen sein und uns gegenseitig Mut machen.

Später kamen wir in ein großes Lager bei Angarsk. Dort gab es 22 Schwestern. Sie hatten alles gut organisiert und sogar Gebiete für den Predigtdienst aufgeteilt. Das alles half uns, geistig zu überleben.

[Kasten/Bild auf Seite 108, 109]

Ich kam mehrmals in die „fünfte Ecke“

NIKOLAJ KALIBABA

GEBURTSJAHR: 1935

TAUFE: 1957

KURZPORTRÄT: Wurde 1949 in die sibirische Oblast Kurgan verbannt.

UNS kam es so vor, als ob die Regierung jedem Zeugen Jehovas in der Sowjetunion auf den Fersen war. Die Situation war nicht leicht, aber Jehova half uns, umsichtig zu sein. Im April 1959 wurde ich wegen „religiöser Umtriebe“ verhaftet. Ich beschloss, alles zu leugnen, um niemanden zu verraten. Der Untersuchungsbeamte zeigte mir Bilder von Brüdern und fragte mich nach ihren Namen. Ich erklärte ihm, ich könne keinen identifizieren. Daraufhin holte er ein Bild von meinem leiblichen Bruder hervor und fragte: „Ist das dein Bruder?“ Ich sagte: „Ich habe keine Ahnung, ob er das ist. Kann sein, kann nicht sein.“ Danach zeigte er mir ein Bild von mir und fragte: „Bist du das?“ Ich antwortete: „Die Person sieht aus wie ich, aber ob ich das wirklich bin, kann ich nicht sagen.“

Daraufhin wurde ich für 2 Monate in eine Zelle gesperrt. Jeden Morgen dankte ich als Erstes Jehova für seine liebende Güte. Danach ging ich im Geist einen Bibeltext aus verschiedenen Blickwinkeln durch. Anschließend sang ich ein Königreichslied, allerdings im Stillen, denn Singen war in der Zelle verboten. Zum Schluss beschäftigte ich mich noch eine Zeit lang mit einem biblischen Thema.

Ich kam in ein Lager, wo bereits viele Zeugen einsaßen. Die Lebensbedingungen waren extrem hart und wir durften nicht miteinander reden. Die Brüder kamen sehr oft in den Strafisolator oder die fünfte Ecke, wie sie es ausdrückten. Auch ich kam mehrmals in die fünfte Ecke. Hier erhielt ich nur 200 Gramm Brot am Tag und schlief auf einer Holzpritsche, die mit einem dicken Eisenmantel verstärkt war. Die Fensterscheiben waren zerbrochen und es gab viele Mücken. Meine Stiefel dienten mir als Kissen.

In der Regel dachte sich jeder selbst ein Versteck für Literatur aus. Meine versteckte ich immer im Besen. Bei Durchsuchungen kam der Aufseher erst gar nicht auf die Idee, im Besen nachzusehen, obwohl er sonst alles unter die Lupe nahm. Wir versteckten die Literatur auch im Gemäuer. Mein Vertrauen zu Jehovas Organisation wuchs immer mehr. Jehova sieht und weiß alles und steht jedem Einzelnen seiner treuen Diener bei. Er hat mir stets geholfen.

Noch bevor wir als Familie 1949 in die Verbannung kamen, hatte mein Vater gesagt, Jehova könne alles so lenken, dass die Wahrheit sogar bis ins ferne Sibirien dringen würde. Wir hatten uns damals gefragt, wie das wohl gehen sollte. Und nun hatten die Behörden selbst dafür gesorgt, dass Tausende aufrichtige Menschen dort mit der Wahrheit in Kontakt kamen.

Als sich Jahre später die Situation in Russland völlig veränderte, nutzten viele von uns 1989 sofort die Gelegenheit, zum internationalen Kongress nach Polen zu reisen. Diese Tage werden mir unvergesslich bleiben. Nach dem Schlussgebet konnten wir nicht aufhören zu klatschen. Das Gefühl war unbeschreiblich! Wir hatten im Lauf der Jahre ja schon viel mitgemacht, aber in der ganzen Zeit hatten wir nur selten Tränen in den Augen. Doch beim Abschied von unseren lieben polnischen Brüdern flossen die Tränen nur so und waren einfach nicht aufzuhalten. Warum auch?!

[Kasten/Bild auf Seite 112, 113]

Alles um der guten Botschaft willen

PJOTR PARZEJ

GEBURTSJAHR: 1926

TAUFE: 1946

KURZPORTRÄT: Lernte Jehovas Zeugen 1943 in Deutschland kennen. Kam in zwei NS-Konzentrationslager und dann in ein Arbeitslager in Russland. Diente später in der Verbotszeit als Kreisaufseher.

IN DER Zeit in Deutschland lernte ich vieles aus der Bibel und erzählte es sofort meinen Freunden weiter. Viele nahmen die Wahrheit an. 1943 denunzierte mich ein Pfarrer bei der Gestapo, die mich umgehend festnahm und mir „Aufwiegelei der Jugend“ vorwarf. Kurz danach verfrachtete man mich nach Majdanek, ein Vernichtungslager in Polen. Der Kontakt zu den Brüdern und Schwestern dort war besonders kostbar für mich. Unser fester Entschluss, zu predigen, wurde im Lager sogar noch stärker. Viele Sträflinge waren an der Wahrheit interessiert, und wir suchten nach Mitteln und Wegen, ihnen von Jehovas Königreich zu erzählen. Einmal bekam ich 25 Peitschenhiebe mit einer Peitsche, die zwei Riemen hatte. Hinterher richtete ich mich auf und sagte laut in Deutsch: „Danke schön!“ Da meinte einer der Männer: „Jetzt guck dir einer an, wie hart der im Nehmen ist! Wir schlagen ihn und er bedankt sich noch!“ Mein Rücken war grün und blau von den Striemen.

Die Arbeit war extrem schwer und wir waren völlig erschöpft. Wer starb, wurde im Krematorium verbrannt, das Tag und Nacht in Betrieb war. Ich rechnete damit, bald auch dort zu landen, und sah keine Chance, noch einmal lebend aus dem Lager herauszukommen. Eine Verletzung war meine Rettung. Relativ Gesunde wurden zur Arbeit gezwungen, der Rest aber wurde in andere Lager abgeschoben. Dadurch kam ich zwei Wochen später ins KZ Ravensbrück.

Kurz vor Kriegsende ging das Gerücht, die Deutschen würden uns demnächst alle erschießen. Doch dann hörten wir, dass die Wächter davongelaufen waren. Sobald die Häftlinge merkten, dass sie frei waren, zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Ich landete in Österreich. Dort wollte man mich zum Militär einziehen, was ich natürlich sofort verweigerte. Ich erklärte ihnen, ich hätte gerade wegen meines Glaubens einige Zeit im KZ verbracht. So durfte ich in die Ukraine heimkehren, die damals zur Sowjetunion gehörte. 1949 heiratete ich Jekaterina, die mir eine treue Gefährtin wurde. 1958 wurde ich verhaftet und in ein Arbeitslager in Mordowien deportiert.

Nach meiner Freilassung half ich beim Druck biblischer Literatur mit. Im Jahr 1986 hatten wir einmal die ganze Nacht durchgearbeitet und 1 200 Seiten gedruckt. Wir hatten sie überall gestapelt — auf dem Boden, auf den Betten, wo immer es ging. Da tauchte plötzlich einer vom KGB auf, „nur so zum Reden“, wie er sagte. Jekaterina fragte ihn, wo er denn reden wolle, ohne daran zu denken, dass er ja vielleicht ins Haus kommen wollte. Aber zum Glück wollte er mit uns draußen reden in unserer Küche im Freien. Wäre er ins Haus gekommen, wären wir verhaftet worden.

Noch heute bemühen wir uns, unser Hingabeversprechen zu halten und alles um der guten Botschaft willen zu tun. Und wir sind Jehova sehr dankbar dafür, dass unsere 6 Kinder, 23 Enkel und 2 Urenkel ebenfalls Jehova treu dienen und in der Wahrheit mit dabei sind.

[Kasten auf Seite 122]

Einzelhaft

Innerhalb des sowjetischen Strafsystems war die Einzelhaft eine häufige Form der Bestrafung für alle möglichen Vergehen, wie zum Beispiel, wenn jemand religiöse Literatur nicht von sich aus hergab. Der Sträfling erhielt Baumwolllumpen zum Anziehen und wurde in den Strafisolator oder Karzer gesperrt.

So eine Strafzelle war zumeist sehr klein — gerade einmal drei Quadratmeter. Sie war dunkel, feucht, schmutzig und bitterkalt, besonders im Winter. Die Betonwände waren rau und scharfkantig. In dem meterdicken Gemäuer gab es nur ein kleines Fenster, dessen Scheibe oft zerbrochen war. Eine elektrische Lampe sorgte für etwas Licht; sie war mit einem löcherigen Metallstück abgedeckt und in einer Nische in der Wand angebracht. Sitzen konnte man außer auf dem nackten Betonboden nur noch auf einem schmalen, bankähnlichen Wandvorsprung. Aber sehr lange hielt man es darauf nicht aus, denn die Bein- und Rückenmuskulatur wurde schnell müde und schmerzte und die scharfkantige Wand zerschnitt einem den Rücken.

Nachts wurde eine hölzerne Pritsche zum Schlafen hereingeschoben. Sie war mit Metall verstärkt. Der Gefangene musste auf dem blanken Holz und Metall liegen, doch die Kälte ließ ihn nicht schlafen, und es gab keine Decken. In der Regel erhielt man einmal am Tag 300 Gramm Brot und alle drei Tage eine wässrige Suppe.

Durch die Latrine, die nicht viel mehr war als ein Rohr im Boden, verbreitete sich ein furchtbarer Gestank. In einigen Zellen kam die „Belüftung“ aus der Kanalisation und Ventilatoren trieben den Gestank in die Zelle. Mitunter wurden sie extra aufgedreht, um den Insassen noch mehr zu drangsalieren und ihn zu zermürben.

[Kasten/Bild auf Seite 124, 125]

Mordowien: Lagpunkt Nr. 1

In diesem Lager mit insgesamt 600 Insassen saßen zwischen 1959 und 1966 einmal über 450 Brüder ein. Es war eins der 19 Zwangsarbeitslager von Mordowien. Rundherum stand ein 3 Meter hoher elektrischer Stacheldrahtzaun, der von 13 weiteren Stacheldrahtzäunen umgeben war. Der Boden um das Lager herum war stets frisch geharkt, sodass ein Ausbruch immer Spuren hinterlassen würde.

Man versuchte, die Zeugen von der Außenwelt komplett abzuschneiden, um sie so physisch und psychisch mürbe zu machen. Doch den Brüdern gelang es, sogar im Lager theokratische Aktivitäten zu organisieren.

Das Lager war ein Kreis mit eigenem Kreisaufseher. Der Kreis bestand aus 4 Versammlungen, zusammengesetzt aus 28 Buchstudiengruppen. Damit alle stark im Glauben blieben, beschlossen die Brüder, sieben Zusammenkünfte in der Woche abzuhalten. Anfangs hatten sie nur eine einzige Bibel, also stellten sie einen Plan auf, damit die Versammlungen abwechselnd darin lesen konnten. Sobald sich die Gelegenheit bot, schrieben die Brüder die Bibel ab. Per Hand übertrugen sie einzelne Bibelbücher in verschiedene Notizhefte. Die Bibel selbst wurde an einem sicheren Ort versteckt. Dadurch war es nun allen Versammlungen möglich, den Bibelleseplan einzuhalten. Nicht einmal das Wachtturm-Studium fehlte. Einige Schwestern, die ihre Männer besuchten, konnten nämlich Miniaturausgaben der Zeitschriften ins Lager einschleusen. Sie hatten sie entweder im Mund oder in den Schuhabsätzen versteckt oder als dünne Papierseiten ins Haar eingeflochten. Fürs Abschreiben bekamen viele Brüder bis zu 15 Tagen Einzelhaft.

Dort waren sie von den anderen Gefangenen völlig isoliert. Die Wachhabenden passten auf wie ein Luchs, dass die Zeugen im Karzer nichts zum Lesen hatten. Doch die Brüder fanden immer Mittel und Wege, ihre Glaubensbrüder mit geistiger Speise zu versorgen. Zum Beispiel wurden die Insassen der Strafzellen zum Spaziergang in einen Hof geführt. Also kletterte ein Bruder auf das Dach, von wo aus man in den Hof sehen konnte, und blies von da oben mit einem langen Rohr kleine Papierkügelchen, die mit Bibeltexten beschrieben waren, zu dem Zeugen unten im Hof. Dieser tat so, als wollte er seine Schuhe binden, und nahm die geistige Speise unbemerkt an sich.

Zum Frühstück und Abendessen gab es Haferschleim mit etwas Baumwollsamenöl. Das Mittagessen bestand aus einem wässrigen Borschtsch oder einer sonstigen Suppe und einem einfachen Gericht. Das Brot sah aus wie der Filz ihrer Stiefel! Iwan Mikitkow sagte später: „In den 7 Jahren, die ich im Lager war, hatten wir fast immer heftige Bauchschmerzen.“

Der Glaube der Brüder blieb fest. Auch die Isolation konnte Gottes treue Diener nicht aus der Bahn werfen. Ihr Glaube und ihre Liebe zu Gott und ihren Mitmenschen war ungebrochen (Mat. 22:37-39).

[Kasten/Bild auf Seite 131, 132]

„Warum weinst du?“

POLINA GUTSCHMIDT

GEBURTSJAHR: 1922

TAUFE: 1962

KURZPORTRÄT: Heiratete später Viktor Gutschmidt. Lernte Jehovas Zeugen im Gefängnis kennen. Ihr fiel besonders deren Freundlichkeit auf.

ICH war eine treue Anhängerin und Verfechterin der kommunistischen Ideale. Doch im Mai 1944 wurde ich von den Kommunisten verhaftet und in ein Arbeitslager nach Workuta verfrachtet. Drei Jahre lang erfuhr ich nicht einmal den Grund dafür. Erst dachte ich, es müsse sich um einen Irrtum handeln, und wartete auf meine Freilassung. Doch dann bekam ich 10 Jahre Lagerhaft wegen angeblich antisowjetischer Bemerkungen.

Aufgrund meiner Medizinkenntnisse arbeitete ich die erste Zeit im Lagerhospital. 1949 wurde ich nach Inta in ein Lager für politische Gefangene verlegt. Dieses Lager wurde erheblich strenger geführt, und Groll, rüdes Benehmen, Unmoral, Gleichgültigkeit und Verzweiflung bestimmten den Alltag. Noch angespannter wurde die Lage durch Gerüchte, alle im Lager würden erschossen oder zu lebenslanger Haft verurteilt. Etliche Häftlinge verloren deshalb den Verstand. Wegen der vielen Denunzianten im Lager misstraute und hasste man einander. Man schaute, dass man für sich blieb und sich so gut wie möglich anpasste. Selbstsucht und Gier dominierten.

Eine Gruppe von ungefähr 40 Gefangenen hob sich von allen anderen deutlich ab. Sie blieben immer zusammen und waren erstaunlich adrett, ordentlich, liebenswürdig und freundlich. Zumeist handelte es sich um jüngere Frauen, sogar ein paar kleine Mädchen waren dabei. Man sagte mir, das seien religiöse Leute — Zeugen Jehovas. Manche Häftlinge benahmen sich ihnen gegenüber gemein und feindselig. Andere bewunderten sie für ihr Verhalten, besonders für ihre gegenseitige Liebe. Wurde zum Beispiel eine von ihnen krank, hielten die anderen abwechselnd an ihrer Seite Wache. Das war im Lager völlig ungewöhnlich.

Mich verwunderte auch, dass sie trotz der vielen verschiedenen Nationalitäten so freundlich zueinander waren. Mir war mittlerweile jeder Lebenswille abhanden gekommen. Einmal saß ich völlig verzweifelt da und weinte. Da kam eins der Mädchen zu mir und fragte mich: „Polina, warum weinst du?“

„Ich will nicht mehr leben“, antwortete ich.

Das Mädchen, sie hieß Lidija Nikulina, tröstete mich. Sie erzählte mir, wieso das Leben einen Sinn hat, wie Gott einmal alle Probleme der Menschheit lösen wird und vieles andere. Im Juli 1954 kam ich frei. Bis dahin hatte ich viel von den Zeuginnen gelernt und freute mich, selbst eine zu werden.

[Kasten/Bild auf Seite 140, 141]

Vom Militäringenieur zum Prediger der guten Botschaft

WLADIMIR NIKOLAJEWSKIJ

GEBURTSJAHR: 1907

TAUFE: 1955

KURZPORTRÄT: Wurde 256-mal in verschiedene Lager und Haftanstalten überführt. Starb 1999.

IM Jahr 1932 schloss ich meine Ausbildung am Moskauer Institut für Nachrichtentechnik ab. Danach arbeitete ich bis 1941 als Ingenieur und leitender Architekt an einem Moskauer Institut und entwarf Spezialausrüstung für Kriegsschiffe. Während des Krieges wurde ich verhaftet und in ein Lager unweit von Kengir gebracht, einem Dorf in Zentralkasachstan.

Dort fielen mir Zeugen Jehovas auf, weil sie anders waren als alle anderen. Von den rund 14 000 Insassen in drei Lagereinheiten (Lagpunkten) waren circa 80 Zeugen. Besonders auffallend war der Kontrast beim Kengir-Aufstand 1954. Jehovas Zeugen schlossen sich der Revolte in keiner Weise an und unterstützten nicht einmal irgendwelche Schutzmaßnahmen. Sie zeigten eine erstaunliche Ruhe und versuchten, den anderen ihren Standpunkt zu erklären. Ihr Verhalten beeindruckte mich ungemein und ich stellte ihnen viele Fragen über ihren Glauben. Einige Zeit später gab auch ich mich Jehova hin. Der Glaube der Zeugen wurde im Lager einer harten Belastungsprobe unterzogen, vor allem als der Aufstand mit Panzern niedergeschlagen wurde.

Eines Tages wurde mir mitgeteilt, dass zwei Generäle aus Moskau eigens angereist waren, um mit mir zu sprechen. Einer der beiden sagte zu mir: „Wladimir, Schluss jetzt! Du bist Militäringenieur und Architekt. Dein Land braucht dich! Wir wollen, dass du wieder deine gewohnte Arbeit machst. Der Umgang mit diesen ungebildeten Leuten ist doch nichts für dich!“

„Es gibt nichts, worauf ich mir etwas einzubilden hätte“, antwortete ich. „Der Mensch hat alle seine Talente von Gott. Wer sich ihm unterstellt, wird einmal unter der Tausendjahrherrschaft Christi leben. Unter seinem Königreich werden die Menschen vollkommen werden und wirklich gebildet sein.“

Ich freute mich sehr, dass ich mit den beiden Generälen über die Wahrheit sprechen konnte. Sie bestürmten mich mehrmals, meine frühere Beschäftigung wieder aufzunehmen. Ich bat sie jedoch, mich deswegen nicht mehr zu bedrängen und mich bei meinen Glaubensbrüdern im Lager zu lassen, die mir sehr ans Herz gewachsen waren.

1955 wurde meine Haftstrafe aufgehoben und ich bekam Arbeit in einem Architekturbüro, das nicht für das Militär arbeitete. Ich versuchte, den Wahrheitssamen so weit wie möglich auszustreuen, mit dem Ergebnis, dass ein Ingenieur mitsamt seiner Familie ein Bibelstudium begann. Alle wurden eifrige Zeugen Jehovas. Der KGB behielt mich jedoch im Auge und fand bei einer Durchsuchung meiner Wohnung biblische Literatur. Ich wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt und kam in ein Arbeitslager im sibirischen Krasnojarsk. Danach wurde ich noch in viele andere Lager und Haftanstalten überführt. Ich habe einmal zusammengerechnet, wie oft das war: insgesamt 256-mal.

[Kasten/Bild auf Seite 147, 148]

Wir benötigten große Koffer

NADJESCHDA JAROSCH

GEBURTSJAHR: 1926

TAUFE: 1957

KURZPORTRÄT: Lernte die Wahrheit im KZ Ravensbrück kennen. War nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion viele Jahre lang als Kurierin tätig. Lebt heute in Kaukasien.

ALS ich 1943 ins KZ Ravensbrück kam, hatte mich aller Lebensmut verlassen. Das änderte sich erst, als ich Kontakt mit Zeugen Jehovas bekam. Es war so ein schönes Gefühl, in die Ukraine heimzukehren mit der festen Hoffnung auf ein Leben im Paradies auf der Erde! Um im Glauben stark zu bleiben, schrieb ich mich mit einigen Zeuginnen. Die Geheimpolizei fing meine Briefe allerdings ab und ich wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt.

Im November 1947 kam ich in ein Lager an der Kolyma, wo ich während der ganzen Haftzeit keinen einzigen Zeugen zu Gesicht bekam. Jehova half mir jedoch zu predigen. Jewdokija, eine Mitgefangene, interessierte sich für die Bibel. Wir wurden Freundinnen, standen uns gegenseitig moralisch bei und stärkten uns im Glauben. Mein Bibelwissen war zwar sehr begrenzt, doch es reichte, um Jehova treu zu bleiben.

Anfang 1957, ein Jahr nach meiner Freilassung, zog ich nach Sujeticha in der Oblast Irkutsk. Die Brüder dort waren sehr gastfreundlich und nahmen mich herzlich auf. Sie halfen mir bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Am meisten freute ich mich aber über ihre Bitte, sie bei den theokratischen Aktivitäten zu unterstützen. Allerdings war ich noch nicht getauft, und so wurde das in einem großen Bottich nachgeholt. Danach war ich bereit für verantwortungsvolle Aufgaben in Jehovas Organisation. Dazu gehörte, die biblische Literatur und die Korrespondenz auszuliefern.

Diese Kurierdienste erstreckten sich über ganz Sibirien, Zentralrussland und die Westukraine. Alles musste vorher gut geplant sein. Für die Westukraine benötigten wir große Koffer. Einmal stand ich am Jaroslawler Bahnhof in Moskau, als bei einem der Koffer plötzlich das Schloss entzweiging und alle Publikationen herausfielen. Ich behielt die Nerven und sammelte alles ohne Hast wieder ein, wobei ich die ganze Zeit betete. Irgendwie schaffte ich es, alles wieder in den Koffer zu packen. Danach verließ ich schleunigst den Bahnhof. Zum Glück hatte keiner von mir Notiz genommen.

Ein andermal war ich mit zwei Koffern voller Literatur von der Ukraine über Moskau nach Sibirien unterwegs. Einen Koffer hatte ich unter das unterste Bett im Abteil gelegt. Kurz danach kamen zwei Herren herein — vom KGB. Sie unterhielten sich unter anderem über die Zeugen, die, wie sie sagten, „Literatur verteilen und antisowjetische Agitation betreiben“. Ich versuchte, ruhig Blut zu bewahren, damit sie keinen Verdacht schöpften, zumal sie sozusagen direkt auf der Literatur saßen!

Ob ich als Kurierin oder auf andere Weise für Jehova tätig war — ich war jederzeit darauf gefasst, verhaftet zu werden. So habe ich in vielen Lebenslagen gelernt, mich völlig auf Jehova zu verlassen.

[Kasten/Bild auf Seite 158, 159]

„Ihr seid tatsächlich ganz anders“

SINAIDA KOSYREWA

GEBURTSJAHR: 1919

TAUFE: 1958

KURZPORTRÄT: Verbrachte viele Jahre in unterschiedlichen Lagern. Starb 2002.

SCHON von klein auf war es mein Herzenswunsch, Gott zu dienen. 1942 führte mich eine Freundin, die es gut mit mir meinte, in die russisch-orthodoxe Kirche ein, damit ich „nicht eines Tages in der Hölle lande“, wie sie sagte. Als der Priester aber hörte, dass ich Ossetin bin, wollte er mich nicht taufen. Er änderte seine Meinung erst, als meine Freundin ihm Geld dafür gab. Auf der Suche nach der Wahrheit hatte ich Kontakt zu Adventisten, Pfingstlern und Baptisten. Deswegen wurde ich zu Zwangsarbeit verurteilt. Im Arbeitslager lernte ich Zeugen Jehovas kennen und überzeugte mich schnell von der Wahrheit. 1952 kam ich wieder frei, kehrte heim und fing an, die gute Botschaft zu predigen.

Im Dezember 1958 klopfte es plötzlich in aller Frühe bei uns an der Tür. Soldaten stürmten herein, zwei von ihnen drängten mich in eine Ecke und bewachten mich dort, der Rest durchsuchte das Haus. Mein Vater wurde aus dem Schlaf gerissen und bekam große Angst um seine Familie, vor allem um seine Söhne. Meine Eltern hatten 5 Söhne, ich war die einzige Tochter. Als er sah, dass die Soldaten alle Zimmer und den Dachboden durchwühlten, vermutete er, dass das etwas mit meinem Glauben zu tun hatte. Er griff sich ein Gewehr, legte auf mich an und schrie: „Amerikanische Spionin!“ Doch die Soldaten rissen ihm das Gewehr weg. Ich konnte es nicht fassen, dass mein eigener Vater mich erschießen wollte. Nach der Durchsuchung wurde ich auf einen Lkw verfrachtet, aber ich war froh, dass ich lebte. Für meine religiöse Betätigung bekam ich 10 Jahre Haft.

Im Dezember 1965 wurde ich vorzeitig aus der Haft entlassen. Meine Eltern freuten sich, mich wiederzusehen, allerdings wollte Vater nicht, dass ich bei ihnen wohnte. Seltsamerweise verlangte der KGB von meinem Vater jedoch, meinen Wohnsitz bei ihm anzumelden, und vermittelte mir sogar eine Arbeit. Vater war nach wie vor feindselig, doch nach einer Weile änderte sich das. Er lernte die Brüder und Schwestern kennen, die mich besuchten. Meine leiblichen Brüder waren arbeitsscheu, trinklustig und streitsüchtig. Eines Tages sagte Vater: „Ihr seid tatsächlich ganz anders, als ich dachte. Ich möchte dir gern ein eigenes Zimmer geben, damit ihr dort eure Zusammenkünfte abhalten könnt.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Er zeigte mir ein großes Zimmer, das er für mich gedacht hatte, und sagte: „Keine Angst! Wenn ihr eure Zusammenkunft habt, stehe ich draußen Wache, da kommt keiner rein!“ Genauso war es auch, denn Vater war für sein raues Wesen bekannt.

So hielten wir unter dem Schutz Jehovas und meines Vaters in meinen eigenen vier Wänden unsere Zusammenkünfte ab. Wir waren oft bis zu 30 Personen, denn so viele Zeugen gab es damals in Nordossetien. Es war ein schönes Gefühl, aus dem Fenster zu schauen und meine Eltern vor dem Haus sitzen zu sehen, die Wache hielten. Zurzeit zählen wir in Nordossetien um die 2 600 eifrige Verkündiger, die Jehovas Königreich bekannt machen (Jes. 60:22).

[Kasten/Bild auf Seite 162, 163]

Ich war als einziger Zeuge im Lager übrig

KONSTANTIN SKRIPTSCHUK

GEBURTSJAHR: 1922

TAUFE: 1956

KURZPORTRÄT: Lernte die Wahrheit 1953 in einem Arbeitslager kennen und ließ sich dort 1956 taufen. Verbrachte als Zeuge Jehovas durchgehend 25 Jahre in Haft. Starb 2003.

ICH lernte Wassilij, einen Zeugen Jehovas, 1953 in der Gefängniszelle kennen. Wie er mir erklärte, war er wegen seines Glaubens an Gott eingesperrt worden. Mir wollte nicht eingehen, dass man jemand für seinen Glauben ins Gefängnis wirft. Das ließ mir keine Ruhe und ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag erklärte er mir mehr dazu. Nach und nach überzeugte ich mich davon, dass die Bibel ein Buch von Gott ist.

1956 ließ ich mich taufen. Ende des Jahres wurden bei einer Durchsuchung große Mengen Literatur bei uns entdeckt. Die Ermittlungen dauerten fast ein Jahr an. 1958 wurde ich schließlich wegen „religiöser Umtriebe“ zu 23 Jahren Haft verurteilt. Bis dahin hatte ich bereits 5 1Jahre in Lagern verbracht. In den insgesamt 28 1Jahren kam ich nicht ein einziges Mal frei.

Im April 1962 wurde ich sogar als „gemeingefährlich“ eingestuft und in ein Speziallager überführt, in dem ich 11 Jahre zubrachte. Es war in vielerlei Hinsicht „spezial“. Zum Beispiel waren für die tägliche Verpflegung nur 11 Kopeken pro Person angesetzt. Damit konnte man damals nicht einmal einen Laib Brot kaufen. Ich war 1,92 Meter groß und wog nur noch 59 Kilogramm. Meine Haut trocknete aus und schuppte sich.

Da ich ein guter Handwerker war, schickte man mich oft zu Reparaturarbeiten in die Wohnungen von Funktionären. Keiner von ihnen hatte Angst vor mir, und sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Wertsachen zu verstecken. Einmal ließ die Frau eines Funktionärs, bei dem ich in der Wohnung etwas zu reparieren hatte, sogar ihren 6-jährigen Sohn da, statt ihn in den Kindergarten zu bringen. Das war schon paradox: Ein „gemeingefährlicher“ Häftling verbringt den ganzen Tag allein in der Wohnung mit einem 6-jährigen Kind! Es war offensichtlich, dass mich keiner für kriminell, geschweige denn für „gemeingefährlich“ hielt.

Nach und nach kamen alle Brüder aus dem Lager frei. 1974 war ich dort als einziger Zeuge übrig. Es dauerte noch 7 Jahre, bis ich im August 1981 freikam. Jehova hat mich die ganze Zeit gestützt. Wie? In den 7 Jahren bekam ich von einem Bruder regelmäßig die neuesten Artikel des Wachtturms in Form eines wunderschön von Hand geschriebenen Briefs zugeschickt. Der Lagerzensor übergab mir jedes Mal den geöffneten Brief. Wir wussten beide genau, was drinstand. Bis heute weiß ich nicht, warum er dieses Risiko auf sich genommen hat. Aber ich bin froh, dass er die ganzen 7 Jahre dort gearbeitet hat. Besonders dankbar bin ich Jehova. In all den Jahren habe ich von ihm viel Kraft bekommen und gelernt, auf ihn zu vertrauen (1. Pet. 5:7).

[Kasten/Bild auf Seite 168, 169]

Nach dem Krieg ging ich nach Russland zurück

ALEKSEJ NEPOTSCHATOW

GEBURTSJAHR: 1921

TAUFE: 1956

KURZPORTRÄT: Lernte die Wahrheit 1943 im KZ Buchenwald kennen und war 19 Jahre in Russland inhaftiert. Diente über 30 Jahre als allgemeiner Pionier (hauptsächlich in der Verbotszeit).

ALEKSEJ kam mit 20 Jahren ins KZ nach Auschwitz und dann nach Buchenwald. Dort lernte er die Wahrheit kennen. Kurz vor seiner Befreiung sagten zwei gesalbte Brüder zu ihm: „Aleksej, es wäre gut, wenn du nach dem Krieg nach Russland zurückgingest. Das Land ist riesig und braucht dringend Erntehelfer. Die Situation dort ist natürlich schwierig, mach dich also auf die verschiedensten Prüfungen gefasst. Wir beten für dich und für alle, die auf die Botschaft hören.“

1945 wurde Aleksej von den Briten befreit. Er kehrte nach Russland zurück, wo er prompt zu 10 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er sich weigerte, zu wählen. Er schrieb: „Zuerst war ich der einzige Zeuge im Gefängnis. Ich bat Jehova darum, Menschen zu finden, die ihn kennenlernen wollten, und nach kurzer Zeit waren wir schon 13! Wir hatten keine biblische Literatur, aber aus den Romanen, die wir in der Gefängnisbibliothek ausleihen konnten, schrieben wir uns Bibelzitate ab.“

Er verbüßte die 10-jährige Strafe und zog dann extra in eine Gegend, wo viele Christen lebten. Hier seine Eindrücke: „Die Menschen sehnten sich danach, mehr über Gott zu erfahren. Sie kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit zu mir und brachten auch ihre Kinder mit. Und sie überprüften alles, was sie hörten, mit der Bibel.“

Innerhalb von wenigen Jahren konnte er über 70 Personen auf dem Weg zur Taufe begleiten. Eine davon war Maria, sie wurde später seine Frau. Aleksej erzählte: „Der KGB war hinter mir her. Ich wurde festgenommen und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Auch Maria wurde verhaftet. Ihre Verhandlung fand erst nach 7 Monaten statt, bis dahin saß sie in Einzelhaft. Der Ermittlungsbeamte sagte zu ihr, sie brauche sich nur von Jehova loszusagen, dann würde sie sofort freikommen. Doch das kam für Maria nicht infrage. Sie wurde zu 7 Jahren Arbeitslager verurteilt. Eine Glaubensschwester nahm unsere kleine Tochter zu sich und sorgte für sie.“

Aleksej und Maria wurden später vorzeitig aus der Haft entlassen und zogen in die Oblast Twer. Dort wehte ihnen sowohl von den Behörden als auch von den Einheimischen ein eisiger Wind entgegen. Ein Nachbar steckte sogar ihr Haus in Brand. Viele Jahre lang mussten sie immer wieder umziehen, doch überall konnten sie jemand zur Wahrheit führen.

Aleksej sagte: „In der ganzen Haftzeit konnten wir nicht in Gottes Wort lesen. Darum haben wir uns seitdem zum Ziel gesetzt, jeden Tag in der Bibel zu lesen. Maria und ich haben die Bibel mittlerweile über 40-mal durchgelesen. Gottes Wort hat uns die Kraft und die Motivation für den Dienst gegeben.“

Insgesamt verbrachte Aleksej 4 Jahre in NS-Konzentrationslagern und 19 Jahre in russischen Haftanstalten und Lagern. In den 30 Jahren Pionierdienst konnten er und seine Frau sehr vielen Menschen helfen, Jehova kennen- und lieben zu lernen.

[Kasten/Bild auf Seite 177, 178]

Der Soldat hatte recht

REGINA KUKUSCHKINA

GEBURTSJAHR: 1914

TAUFE: 1947

KURZPORTRÄT: Bekam viele Jahre lang keinen Kontakt zu Brüdern, predigte trotzdem treu die gute Botschaft weiter.

IM Jahr 1947 kam ich auf dem Markt mit einer Zeugin ins Gespräch. Noch am selben Abend besuchte ich sie zu Hause und wir unterhielten uns stundenlang. Ich nahm mir sofort vor, genau wie sie Jehova eifrig zu dienen. Ich sagte zu ihr: „Ich werde auch predigen gehen, so wie du!“

Wegen meiner Predigtaktivitäten wurde ich 1949 dann in Lwiw (Ukraine) verhaftet und von meinem Mann und meinen beiden kleinen Töchtern weggeholt. Bei einer Verhandlung (unter Ausschluss der Öffentlichkeit) durch die sogenannte Troika, eine Dreiergruppe, die über mich zu urteilen hatte, wurde ich zum Tod durch Erschießen verurteilt. Bei der Urteilsverkündung erklärte eine zu der Dreiergruppe gehörende Frau: „Da Sie zwei Kinder haben, wird die Todesstrafe in 25 Jahre Haft abgemildert.“

Ich kam in eine Zelle mit lauter Männern. Sie wussten bereits, dass ich Zeugin Jehovas war und waren erstaunt, dass ich trotz der 25-jährigen Haftstrafe so gefasst war. Als ich aus dem Gefängnis wegtransportiert wurde, reichte mir ein junger Soldat ein Essenspaket und sagte freundlich: „Hab keine Angst! Es wird alles gut.“

Bis 1953 verbüßte ich meine Strafe in einem Lager in Nordrussland. Dort saßen auch viele Schwestern aus den verschiedensten Sowjetrepubliken ein. Wir waren uns wie eine Familie von Herzen zugetan.

Wir Schwestern hofften und bemühten uns, andere durch unser gutes Verhalten dazu zu motivieren, Gott zu dienen. Wir mussten immer schwer und lange arbeiten. Schließlich wurde ich vorzeitig aus der Lagerhaft entlassen, doch ich geriet in eine andere Art Isolation. Ich bekam mehr als 5 Jahre lang keinen Kontakt zu Brüdern. Das war viel schwerer als die Haft. Trotz allem spürte ich immer den Beistand Jehovas und seine beständige Liebe. Ich las viel in der Bibel und beschäftigte mich intensiv damit — das hat mich gestärkt.

Dann verhalf mir Jehova auf ungewöhnliche Weise zum Kontakt mit seinen Zeugen. In der Zeitung Sowjetskaja Rossija entdeckte ich einen Artikel über Jehovas Zeugen in Nordossetien im Südwesten Russlands. Darin wurde zwar behauptet, die Aktivitäten der Zeugen seien gegen die sowjetische Gesellschaft gerichtet, doch dafür listete er die Familiennamen und Adressen von Brüdern und Schwestern auf. Ich konnte mein Glück kaum fassen! Ich schrieb den Brüdern, dass ich mich mit ihnen treffen wollte. Als wir uns dann trafen, stärkten sie mir sehr den Rücken. Sie sagten, Jehova habe zugelassen, dass dieser negative Artikel gedruckt wurde, damit ich wieder Kontakt zu seinem Volk bekam.

Mittlerweile bin ich über 90. Der nette Soldat hatte recht: In meinem ganzen Leben ist trotz vieler Härten alles gut gewesen.

[Kasten/Bild auf Seite 188, 189]

Wir machten die „Zeltpflöcke“ so stark wie möglich

DMITRIJ LIWYJ

GEBURTSJAHR: 1921

TAUFE: 1943

KURZPORTRÄT: Diente über 20 Jahre im Landeskomitee von Russland und ist heute Ältester in einer Versammlung in Sibirien.

ES WAR im Jahr 1944 — sechs Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich stand wegen meiner Neutralität als Christ vor einem Militärgericht und wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt. Anschließend wandelte man die Strafe in 10 Jahre Haft in Besserungsarbeitslagern um.

Im Januar 1945 kam ich in ein Lager im nördlichen Russland in der Republik Komi, und zwar in der Stadt Petschora. Unter den Hunderten von Gefangenen waren zehn Brüder. Leider wurde mir mein einziger Wachtturm weggenommen, und so waren wir ohne jede geistige Speise. Ich war körperlich derart geschwächt, dass ich arbeitsunfähig war. Beim Waschen im Badehaus sagte ein Bruder zu mir, ich sei nur noch Haut und Knochen. Ich sah tatsächlich so elend aus, dass ich nach Workuta in einen Lagpunkt für Invaliden kam.

Nach einer Weile ging es mir etwas besser und ich wurde zur Arbeit in die Sandgrube geschickt. Aber nach nicht einmal einem Monat war ich erneut zum Skelett abgemagert. Der Arzt dachte, ich würde mein Essen gegen Tabak eintauschen. Ich erklärte ihm jedoch, dass ich als Zeuge Jehovas nicht rauchte. In diesem Lager war ich mehr als zwei Jahre. Zwar war ich der einzige Zeuge dort, doch es gab immer jemand, der gern etwas von der Wahrheit hören wollte, und einige fühlten sich von der guten Botschaft angesprochen.

Eines Tages schickten mir Verwandte mit einem Päckchen einen handgeschriebenen Wachtturm. Wie kam er trotz der strengen Kontrollen durch? Er lag zweimal gefaltet im doppelten Boden einer Dose unter einer dicken Fettschicht. Der Wachmann durchstach die Dose, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken und übergab sie mir. Dieses ‘lebendige Wasser’ hielt mich eine ganze Weile aufrecht (Joh. 4:10).

Im Oktober 1949 wurde ich vorzeitig entlassen; im November ging ich dann heim in die Ukraine. Uns kam zu Ohren, dass einige Brüder nach Moskau gegangen waren, um unser Werk dort gesetzlich eintragen zu lassen. Doch wie es aussah, war der sowjetische Staat an einer Anerkennung der Zeugen Jehovas nicht interessiert.

Am 8. April 1951 wurden wir dann über Nacht zusammen mit anderen Familien von Zeugen Jehovas auf Güterwagen verfrachtet und nach Sibirien deportiert. Zwei Wochen später kamen wir im tiefsten Sibirien an, im Dorf Chasan in der Oblast Irkutsk.

Der Text aus Jesaja 54:2: „Verlängere deine Zeltstricke, und mache die Zeltpflöcke von dir stark“, ging uns sehr zu Herzen. Diese Prophezeiung passte wohl genau auf uns. Wer von uns wäre sonst freiwillig nach Sibirien gegangen? Wir mussten also unsere Zeltpflöcke so stark wie möglich machen. So lebe ich jetzt seit über 55 Jahren in Sibirien.

[Kasten/Bild auf Seite 191, 192]

Ich hatte nie eine eigene feste Bleibe

WALENTINA GARNOWSKAJA

GEBURTSJAHR: 1924

TAUFE: 1967

KURZPORTRÄT: Verbrachte 21 Jahre ihres Lebens in Haftanstalten und Lagern, 18 davon vor ihrer Taufe. Konnte im Lauf ihres Lebens 44 Menschen helfen, die Wahrheit kennenzulernen. Starb 2001.

MEINE Mutter und ich wohnten im Westen Weißrusslands. Ich lernte Zeugen Jehovas im Februar 1945 kennen. Ein Bruder kam dreimal zu uns nach Hause und zeigte uns etwas aus der Bibel — das war alles. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen, aber ich habe von da an Nachbarn und Bekannten gepredigt. Man nahm mich fest und verurteilte mich zu 8 Jahren Lagerhaft. Dazu brachte man mich in die Oblast Uljanowsk.

Im Lager hielt ich Augen und Ohren offen, ob unter meinen Mitgefangenen Zeugen Jehovas waren. 1948 bekam ich mit, wie eine Lagerinsassin von Gottes Königreich erzählte. Sie hieß Asja. Ich war so glücklich, mich mit ihr über biblische Themen unterhalten zu können. Kurz danach kamen drei weitere Schwestern ins Lager. Wir besaßen so gut wie keine Publikationen und versuchten deshalb, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen.

1953 kam ich frei, 3 1Jahre später wurde ich allerdings erneut verhaftet und zu 10 Jahren verurteilt, weil ich gepredigt hatte. 1957 verlegte man mich in das Lager Kemerowo, wo ungefähr 180 Schwestern einsaßen. Wir waren nie ohne Literatur. Im Winter vergruben wir sie im Schnee, im Sommer im Gras oder in der Erde. Wurde ich durchsucht, hielt ich die Abschriften in meinen Händen versteckt, mit denen ich auch die Enden eines dicken Schals umklammerte, den ich mir umgelegt hatte. Ging es von Lager zu Lager, trug ich in einer selbst genähten Mütze mehrere Wachttürme bei mir.

Eines Tages kam ich in ein Lager in Mordowien. Dort gab es eine Bibel — in einem sicheren Versteck. Lesen durfte man sie nur in Gegenwart der Schwester, die die Aufgabe hatte, sie sicher zu verstecken. Bis dahin hatte ich nur ein einziges Mal eine Bibel zu Gesicht bekommen: bei dem Bruder, der mich 1945 mit der Wahrheit bekannt gemacht hatte.

1967 kam ich frei und zog nach Angren in Usbekistan. Dort konnte ich mich zum Zeichen meiner Hingabe endlich taufen lassen. Damals traf ich zum ersten Mal wieder Brüder. Denn die ganze Zeit über war ich nur in Frauenlagern gewesen. Die Brüder und Schwestern in der Versammlung waren alle eifrig im Dienst und sind mir schnell ans Herz gewachsen. Im Januar 1969 wurden 8 Brüder und 5 Schwestern aus unserer Versammlung verhaftet, weil sie gepredigt hatten. Ich gehörte dazu. Man stufte mich als „gemeingefährliche Verbrecherin“ ein und verurteilte mich zu 3 Jahren. Viele Male kam ich in Einzelhaft, weil ich predigte.

War jemand interessiert, studierten wir die Bibel heimlich unter der Bettdecke. Wenn wir draußen unterwegs waren, durften wir nicht miteinander reden. Wer dabei ertappt wurde, kam in den Karzer. Wir hatten nur handgeschriebene Literatur und schrieben sie ständig neu ab.

Ich hatte nie eine eigene feste Bleibe. Alle meine Habseligkeiten befanden sich in einem einzigen Koffer, aber ich war glücklich und zufrieden, weil ich Jehova dienen durfte.

[Kasten/Bild auf Seite 200, 201]

Ein Vernehmungsoffizier stärkte meinen Glauben

PAWEL SIWULSKIJ

GEBURTSJAHR: 1933

TAUFE: 1948

KURZPORTRÄT: Immer wieder versuchte man, ihn ideologisch umzuerziehen; ist heute Ältester in einer Versammlung in Russland.

IM Jahr 1958 wurde ich wegen „religiöser Umtriebe“ verhaftet. Auf dem Weg zum Zug sagte der Beamte zu mir: „Schauen Sie sich Ihre Frau noch ein letztes Mal an, denn Sie werden sie nie wiedersehen.“

In Irkutsk wurde ich in eine Zelle gesteckt, in der man gerade so stehen konnte. Danach kam ich bis zu meiner Verhandlung 6 Monate in Einzelhaft. In den nächtlichen Verhören taten die Vernehmungsoffiziere alles, um meinen Glauben an die Bibel und mein Vertrauen zur Organisation Gottes zu erschüttern. Sie warfen mir Beteiligung an den illegalen Aktivitäten der Zeugen Jehovas vor. Mitunter wandten sie bei den Verhören Gewalt an, doch zumeist versuchten sie es mit ideologischer Indoktrinierung. Ich flehte Jehova an, mir die Kraft zu geben, stark zu bleiben. Und er stand mir stets zur Seite.

Während eines Routineverhörs holte mich der Untersuchungsbeamte in sein Büro und meinte: „Jetzt zeigen wir Ihnen einmal, was Ihre Organisation so macht. Dann werden Sie schon sehen, ob es Gottes Werk ist oder nicht!“

Er fixierte mich mit den Augen und sagte: „Zu eurem diesjährigen Kongress haben sich in New York über 253 000 Menschen in zwei Stadien versammelt. Sie wissen genau, dass man so eine Großveranstaltung nie und nimmer ohne den CIA auf die Beine stellen kann. Einen achttägigen Kongress mit Anwesenden aus aller Herren Länder, die per Flugzeug, Zug, Schiff oder sonst wie anreisen — wie soll das alles ohne Hilfe der Behörden zu schaffen gewesen sein? Wer kann so einen achttägigen Kongress in solchen riesigen Stadien bezahlen?“

Er verstreute Fotos über den ganzen Tisch. Auf dem einen sah man fröhliche Kongressbesucher in farbenfrohen Trachten, die sich umarmten. Auf einem anderen sah ich Bruder Knorr, der gerade einen Vortrag hielt. Auf weiteren Fotos war die Taufe zu sehen und wie Bruder Knorr Täuflingen das Buch „Dein Wille geschehe auf Erden“ überreichte. Wir hatten dieses Buch noch nicht bekommen, erfuhren aber später im Wachtturm davon. Der Ermittlungsbeamte schaute mir in die Augen und meinte: „Wissen Sie, worum es in diesem Buch geht? Um den König des Nordens und was ihn erwartet. Wie wollen Jehovas Zeugen so ein Ereignis ohne fremde Hilfe organisiert haben? Wir wissen, dass bei euren Veranstaltungen immer welche von der amerikanischen Armee dabei sind, um sich für ihre militärischen Operationen etwas in Sachen Organisation abzuschauen. Uns ist dazu noch bekannt, dass ein Millionär viel Geld für den Kongress gespendet hat. Millionäre werfen sonst eigentlich nicht gerade mit Geld um sich.“

Der Untersuchungsbeamte hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich in dem Moment fühlte. Mir war, als hätte ich den Kongress besucht, ohne je das Gefängnis verlassen zu haben. Ich fühlte, wie mich neue Kraft durchzog. Genau etwas in dieser Art hatte ich so nötig gebraucht! Was für ein besonderes und großzügiges Geschenk das von Jehova doch war! Ich war gestärkt, weiter durchzuhalten.

[Kasten/Bild auf Seite 214, 215]

Ein Kino voller Zeugen Jehovas

VENERA GRIGORJEWA

GEBURTSJAHR: 1936

TAUFE: 1994

KURZPORTRÄT: War in den 1960er-Jahren Schauspielerin und spielte in einem sowjetischen Propagandafilm mit. Ist seit 1995 allgemeine Pionierin in Sankt Petersburg.

ZU Beginn meiner Schauspielerkarriere im Jahr 1960 erhielt ich eine Hauptrolle in einem Dokumentarfilm, der übersetzt „Gottes Zeugen“ hieß und in den sowjetischen Kinos lief. Der Film drehte sich um die „schauerliche Sekte der Zeugen Jehovas“, die für den Tod der von mir gespielten Filmheldin Tanja verantwortlich war. Laut Drehbuch läuft Tanja mitten in der Nacht in einem Schneesturm ohne Mantel vor der „Sekte“ davon. Während sie im Schnee verschwindet, sagt der Kommentator mit Grabesstimme: „Das war das Ende von Tanja Wesselowa.“ Mir gefiel das Drehbuch, und es war mir eine Ehre, im Kampf gegen die Zeugen mit von der Partie zu sein, auch wenn ich sie nur vom Drehbuch her kannte.

Der Film wurde in den Kinos und Klubs vieler Städte gezeigt. Ich war bei jeder Premiere dabei und zeigte mich danach auf der Bühne. Damals nahmen die Menschen in der Sowjetunion alles, was ihnen im Fernsehen oder Kino gezeigt wurde, für bare Münze. Wenn ich also auf die Bühne kam, stießen viele einen Erleichterungsseufzer aus und riefen: „Sie lebt!“ Ich erklärte ihnen dann, wie wir den Film gedreht hatten und wie der Regisseur Spezialeffekte eingesetzt hatte — beispielsweise den Schneesturm, in dem ich angeblich in eine Schlucht stürzte und unter dem Schnee begraben wurde.

In Wyschni Wolotschok (in der Oblast Kalinin, heute Twer) war das Kino bei der Premiere brechend voll. Der Abend verlief allerdings anders als sonst. Nach dem Film stellte mir ein älterer Herr rein religiöse Fragen; ich vertrat natürlich die atheistische Ansicht über den Ursprung des Lebens auf der Erde. Kein Zuschauer sagte irgendetwas zum Film. Hinter der Bühne fragte ich den Veranstalter, mit wem ich da denn gerade geredet hatte.

„Das ist der Oberste von der Jehovas-Zeugen-Sekte“, meinte er. „Da sitzen nur Zeugen im Kino.“ Das war also meine erste Begegnung mit den Zeugen und ich hatte es nicht einmal gemerkt. Danach wollte ich gern die Bibel lesen, konnte aber keine auftreiben. Schließlich heiratete ich einen Polen und zog mit ihm in seine Heimat. 1977 standen zwei Schwestern vor unserer Tür und kurz danach studierten wir gemeinsam die Bibel. Mir wuchs dieses Buch sehr ans Herz, und wir freundeten uns mit den Zeugen an. Als mein Vater krank wurde, zogen mein Mann und ich 1985 zu ihm nach Leningrad (heute: Sankt Petersburg). Ich bat Jehova, mir bei der Suche nach den Zeugen dort zu helfen.

Schließlich ließ ich mich taufen. Mittlerweile bin ich seit 12 Jahren im Pionierdienst, und Zdzisław, mein Mann, ist Dienstamtgehilfe in einer Versammlung vor Ort.

Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass die Filmindustrie „durch List im Ersinnen von Irrtum“ mitunter viele Menschen manipuliert (Eph. 4:14). Als ich damals in dem sowjetischen Propagandafilm mitspielte, hätte ich nie gedacht, dass ich 30 Jahre später selbst eine Zeugin Jehovas sein würde.

[Kasten auf Seite 237]

Die Neue-Welt-Übersetzung in Russisch

Über ein Jahrhundert lang nutzten Jehovas Zeugen verschiedene russische Bibelübersetzungen wie zum Beispiel die Synodalübersetzung. Auch wenn diese eine altertümliche Sprache und nur selten den Namen Jehova verwendet, konnten Tausende von russischen Lesern durch sie verstehen lernen, was Gott vorhat. Gute Dienste geleistet hat auch die Makarios-Bibel, die den Gottesnamen ungefähr 3000-mal verwendet. Mit der wachsenden Zahl der russischsprachigen Zeugen stieg allerdings der Bedarf nach einer genauen, klar verständlichen, modernen Bibelübersetzung.

Die leitende Körperschaft sorgte dafür, dass die Neue-Welt-Übersetzung ins Russische übersetzt wurde. So wurde im russischen Zweigbüro mehr als 10 Jahre an diesem bedeutenden Übersetzungsprojekt gearbeitet.

2001 wurde die Neue-Welt-Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften in Russisch herausgegeben. 2007 wurde dann zur Freude russischsprachiger Leser in aller Welt die Freigabe der gesamten Neuen-Welt-Übersetzung in Russisch verkündet — und zwar zuerst in Sankt Petersburg und dann in Moskau von zwei Brüdern der leitenden Körperschaft, Theodore Jaracz beziehungsweise Stephen Lett. Die Freigabe löste tosenden Applaus aus. Sie wurde sofort mit Begeisterung aufgenommen. „Sie ist in so einer klaren, verständlichen und lebendigen Sprache abgefasst!“, schrieb eine Schwester. „Jetzt macht das Lesen in der Heiligen Schrift noch mal so viel Freude.“ Viele drückten der Organisation ihre Dankbarkeit aus: „Was für ein kostbares Geschenk von Jehova!“ oder: „Wir sagen euch von Herzen Dank!“ Die Freigabe der russischen Neuen-Welt-Übersetzung ist ohne Frage ein Meilenstein für wahrheitsliebende, russischsprachige Menschen rund um den Erdball.

[Kasten/Bild auf Seite 244, 245]

Alle unsere Probleme wurden an einem Tag gelöst

IWAN SLAWA UND SEINE FRAU NATALIJA

GEBURTSJAHR: 1966 bzw. 1969

TAUFE: 1989

KURZPORTRÄT: Gingen als Pioniere in ein Gebiet, wo dringend Verkündiger gebraucht wurden. Iwan gehört heute zum Zweigkomitee im Land.

NATALIJA und ich zogen Anfang der 1990er-Jahre von der Ukraine nach Russland. Damals gab es in der Oblast Belgorod mit knapp eineinhalb Millionen Einwohnern nicht einmal zehn Verkündiger. Keine Frage: Hier war die Ernte wirklich groß, aber es gab nur wenige Arbeiter (Mat. 9:37).

Wir waren frisch verheiratet und suchten Arbeit. Doch mit der Wirtschaft ging es immer mehr bergab und viele hatten ihre Arbeit verloren. Damit die Leute überhaupt das Nötigste zum Essen hatten, ließ die Regierung am Arbeitsplatz Lebensmittelmarken ausgeben. Da wir keine Arbeit hatten, bekamen wir auch keine Marken und konnten auf dem Markt nur für teures Geld einkaufen. Wir hatten auch keine Wohnung und mussten im Hotel wohnen. Nachdem wir unser Hotelzimmer für zwanzig Tage bezahlt hatten, war unser Geldbeutel so gut wie leer. Wir beteten jeden Tag zu Jehova, uns zu helfen, eine Arbeit und eine günstige Wohnung zu finden. Die ganze Zeit über predigten wir eifrig weiter und suchten Menschen, die es ehrlich meinten. Schließlich kam unsere letzte Nacht im Hotel. Mit dem bisschen Geld, das wir noch hatten, kauften wir uns ein Brötchen und etwas Milch. Vor dem Schlafengehen beteten wir noch einmal intensiv zu Jehova, uns doch zu helfen, Arbeit und Wohnung zu finden, weil wir am nächsten Tag das Zimmer räumen mussten.

Frühmorgens wurden wir von einem Anruf geweckt. Der Hotelmanager teilte uns mit, dass mein Cousin in der Rezeption auf mich wartete. Das war eine Überraschung! Mein Cousin sagte, er hätte vor kurzem einen Bonus bekommen und würde ihn gern mit mir teilen. Aber das war noch nicht alles. Wenige Minuten später rief uns ein Bruder an und sagte, er habe eine günstige Wohnung für uns gefunden. Am selben Tag bekamen wir auch noch Arbeit: eine Art Hausmeisterjob in einem Kindergarten. Damit waren alle unsere Probleme an einem Tag gelöst. Wir hatten etwas Bargeld, eine Wohnung und eine Arbeit. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass Jehova unsere Gebete erhört hatte.

1991 kamen zum Gedächtnismahl in Belgorod 55 Personen; ein Jahr später waren es 150. Im darauffolgenden Jahr bereits 354. Im Jahr 2006 gab es in der Stadt 6 Versammlungen und in der ganzen Oblast über 2200 Verkündiger.

[Kasten auf Seite 250]

Jüngste rechtliche Entwicklungen

Im Januar 2007 bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unser Recht auf ungehinderte Religionsausübung. Er entschied einstimmig zu unseren Gunsten, dass „das gemeinsame Studium und die Besprechung religiöser Texte von Mitgliedern der Religionsgruppe der Zeugen Jehovas eine anerkannte Form ihrer Glaubensausübung und Lehrtätigkeit ist“.

Obwohl die Brüder in Moskau seit 2004 offiziell in ihrer Tätigkeit eingeschränkt sind, versammeln sie sich weiter öffentlich und schöpfen alle Predigtmöglichkeiten aus. 2007 konnten sie sowohl in Moskau als auch in weiten Teilen Russlands zu ihrer großen Freude unbehelligt das Gedächtnismahl und Bezirkskongresse abhalten.

Zwar muss noch so manche rechtliche Hürde genommen werden, doch unsere Brüder wehren sich mutig gegen Angriffe von Gegnern. Beispielsweise haben sie wegen des Abbruchs der Gedächtnismahlfeier am 12. April 2006 durch Beamte der Polizeidienststelle Ljublino beim EGMR Beschwerde eingereicht. Bei diesem Vorfall hatte die Polizei 14 Brüder festgenommen und deren Rechtsbeistand mit dem Messer bedroht. Ein Gericht vor Ort hatte zwar teilweise zugunsten der Brüder entschieden, doch wurde der Entscheid während eines Berufungsverfahrens umgestoßen und der Fall wurde verloren. Im Juli 2007 reichte man außerdem gegen mehrere Verantwortliche Beschwerde ein, weil sie gegen unsere religiöse Tätigkeit in Sankt Petersburg ungerechtfertigt eine langwierige Untersuchung eingeleitet haben.

[Übersicht auf Seite 228-230]

Russland — WICHTIGE ETAPPEN

1890

1891: Semjon Koslizkij wird für sein mutiges Predigen in den Osten des Russischen Reichs deportiert.

1904: Das Zweigbüro in Deutschland erhält aus Russland etliche Dankesbriefe für biblische Publikationen.

1910

1913: Die russische Regierung anerkennt das Büro der Bibelforscher in Finnland (damals Teil des Russischen Reichs).

1923: Die Gesellschaft wird häufig gebeten, nach Russland Literatur zu senden.

1928: George Young setzt sich bei den Behörden in Moskau für das Werk der Bibelforscher ein. Die Behörden weigern sich, sein Visum zu verlängern.

1929: Vertrag mit einer Rundfunkstation in Tallinn (Estland); in Leningrad und anderen Städten sind Bibelvorträge zu hören.

1930

1939/40: Annektion der Westukraine, Moldawiens und des Baltikums; damit leben auf einmal Tausende von Zeugen Jehovas in der UdSSR.

1944: Hunderte von Zeugen kommen in Haftanstalten und Arbeitslager in ganz Russland.

1949: Jehovas Zeugen werden aus Moldawien nach Sibirien und in den Fernen Osten deportiert.

1950

1951: Über 8500 Zeugen aus der Westukraine, Weißrussland, Lettland, Litauen und Estland werden nach Sibirien verbannt.

1956/57: Auf 199 Bezirkskongressen weltweit wird eine Petition für Religionsfreiheit verabschiedet, gerichtet an die Sowjetregierung.

Ende der 1950er-Jahre: Über 600 Zeugen kommen nach Mordowien in ein Sonderlager in Isolationshaft.

1965: Besonderer Erlass der Sowjetregierung. Die Zeugen dürfen Sibirien verlassen und siedeln sich im ganzen Land an.

1970

1989/90: Erstes Treffen von Brüdern der leitenden Körperschaft mit Brüdern in Russland. Zeugen aus der UdSSR reisen zu Sonderkongressen nach Polen.

1990

1991: 27. März — offizielle Anerkennung.

1992/93: Internationale Kongresse in Sankt Petersburg und Moskau.

1997: Einweihung des russischen Zweigbüros in Solnetschnoje bei Sankt Petersburg.

1999: Einweihung des ersten Kongresssaals in Russland (Sankt Petersburg).

2000

2003: Bethelerweiterung beendet.

2007: Russland hat über 2100 Versammlungen und Verkündigergruppen.

[Übersicht]

(Siehe gedruckte Ausgabe)

Verkündiger

Pioniere

Verkündiger

Pioniere

Verkündiger in den 15 Ländern der ehemaligen UdSSR

360 000

300 000

240 000

180 000

120 000

60 000

40 000

20 000

1890 1910 1930 1950 1970 1990 1990 2000

[Diagramm/Karte auf Seite 218]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Der Literaturversand im ganzen Land wurde von anderen Zweigbüros unterstützt

DEUTSCHLAND FINNLAND

↓ ↓

Solnetschnoje

↓ ↓ ↓ ↓

WEISSRUSSLAND KASACHSTAN MOSKAU RUSSLAND

JAPAN

Wladiwostok

KAMTSCHATKA

[Karte auf Seite 116, 117]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

NÖRDLICHER POLARKREIS

NORD-POLARMEER

Nordpol

Barentssee

Karasee

Laptewsee

Ostsibirische See

Tschuktschensee

Beringstraße

SCHWEDEN

NORWEGEN

DÄNEMARK

KOPENHAGEN

DEUTSCHLAND

POLEN

Lodz

WARSCHAU

Ostsee

FINNLAND

ESTLAND

LETTLAND

LITAUEN

WEISSRUSSLAND

Brest

UKRAINE

Lwiw

MOLDAWIEN

Kaspisches Meer

KASACHSTAN

ASTANA

Kengir

USBEKISTAN

TASCHKENT

Angren

CHINA

MONGOLEI

ULAN-BATOR

CHINA

Japanisches Meer

JAPAN

TOKIO

Hokkaido

Ochotskisches Meer

Beringmeer

RUSSLAND

Petrosawodsk

Sankt Petersburg

Solnetschnoje

Kaliningrad

Weliki Nowgorod

Wyschni Wolotschok

MOSKAU

Tula

Orjol

Kursk

Woronesch

Wladimir

Iwanowo

Nischni Nowgorod

Syktywkar

Uchta

Petschora

Inta

Nowaja Semlja

Workuta

URAL

SIBIRIEN

Jekaterinburg

Nabereschnyje Tschelny

Ischewsk

Saratow

Wolschski

Udarny

Stawropol

Pjatigorsk

Elbrus

Naltschik

Nartkala

Beslan

Wladikawkas

KAUKASUS

Astrachan

Wolga

Tomsk

Nowosibirsk

Kemerowo

Krasnojarsk

Nowokusnezk

Ust-Kan

Aktasch

Birjussinsk

Oktjabrski

Bratsk

Wichorewka

Tulun

Zentralny Chasan

Sima

Salari

Ussolje-Sibirskoje

Kitoi

Angarsk

Irkutsk

Baikalsee

Kirensk

Chabarowsk

Wladiwostok

Korsakow

Juschno-Sachalinsk

Sachalin

Jakutsk

Oimjakon

Ust-Nera

Kamtschatka

Tschuktschenhalbinsel

Kolyma

Chajyr

Norilsk

[Karte auf Seite 167]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

Kaspisches Meer

Ostsee

Barentssee

Karasee

NORDPOLARMEER

Nordpol

Laptewsee

Ostsibirische See

Tschuktschensee

Beringstraße

Ochotskisches Meer

Japanisches Meer

KASACHSTAN

CHINA

MONGOLEI

MURMANSK

PSKOW

TWER

MOSKAU

BELGOROD

WORONESCH

ROSTOW

KABARDINO-BALKARIEN

NORDOSSETIEN

IWANOWO

NISCHEGOROD

MORDOWIEN

ULJANOWSK

WOLGOGRAD

TATARSTAN

PERM

REP. KOMI

URAL

SIBIRIEN

SWERDLOWSK

TSCHELJABINSK

KURGAN

TJUMEN

OMSK

TOMSK

NOWOSIBIRSK

ALTAI

REP. ALTAI

KEMEROWO

REP. CHAKASSIEN

KRASNOJARSK

REP. TUWA

IRKUTSK

BURJATIEN

TSCHITA

REP. JAKUTIEN

AMUR

CHABAROWSK

PRIMORJE

SACHALIN

KAMTSCHATKA

[Bild auf Seite 66]

Tschuktschenhalbinsel: Sonnenaufgang

[Bilder auf Seite 68]

Dieses Verkehrsschild weist in Kasachisch und Russisch auf das sibirische Dorf Buchtarma, in das Semjon Koslizkij verbannt wurde

[Bilder auf Seite 71]

Die Herkendells verbrachten ihre Flitterwochen in Russland und besuchten dort Deutschsprachige

[Bilder auf Seite 74]

Kaarlo Harteva (rechts) erhielt die vom Russischen Kaiserlichen Konsul in New York mit einer Gebührenmarke versehene Vollmacht

[Bild auf Seite 80]

Russischer Bezirkskongress in Carnegie (Pennsylvanien) im Mai 1925: 250 Anwesende, 29 Täuflinge

[Bild auf Seite 81]

Diese Zeitschrift schrieb: „Oblast Woronesch wimmelt von Sekten“

[Bild auf Seite 82]

George Young

[Bilder auf Seite 84]

Nahezu 10 Jahre lang übersetzte Aleksandr Forstman Traktate, Broschüren und Bücher ins Russische

[Bild auf Seite 90]

Pjotr Kriwokulskij und seine Frau Regina (1997)

[Bilder auf Seite 95]

Olga Sewrjugina lernte Jehova durch Pjotrs „Wurfsendungen“ kennen

[Bild auf Seite 100]

Iwan Krylow

[Bilder auf Seite 101]

Die deportierten Zeugen in Sibirien beim Bau einer Unterkunft

[Bild auf Seite 102]

Magdalina Beloschizkaja wurde mit ihrer Familie nach Sibirien verbannt

[Bild auf Seite 110]

Viktor Gutschmidt

[Bild auf Seite 115]

Alla (1964)

[Bild auf Seite 118]

Semjon Kostyljew heute

[Bild auf Seite 120]

Dank seiner biblischen Schulung war Wladislaw Apanjuk auf Glaubensprüfungen gut vorbereitet

[Bilder auf Seite 121]

Diese Broschüre „Nach Harmagedon — Gottes neue Welt“ fand die Polizei in der Wohnung von Nadjeschda Wischnjak

[Bild auf Seite 126]

Boris Krylzow

[Bild auf Seite 129]

Viktor Gutschmidt mit seiner Schwester (oben), seinen Töchtern und seiner Frau Polina, circa einen Monat vor seiner Verhaftung im Jahr 1957

[Bild auf Seite 134]

Iwan Paschkowskij

[Bild auf Seite 136]

Dieses Bild von der Literatur, die in einem Heuhaufen gefunden wurde, erschien 1959 in der russischen Zeitschrift „Krokodil“

[Bild auf Seite 139]

Unter diesem Haus war einer der Druckorte, die 1959 vom KGB entdeckt wurden

[Bild auf Seite 142]

Aleksej Gaburjak half dabei, die Brüder wieder mit der Organisation zusammenzuführen

[Bilder auf Seite 150]

Druckutensilien Marke Eigenbau

Druckmaschine

Papierpresse

Schneidegerät

Hefter

[Bild auf Seite 151]

Stepan Lewizkij, ein Straßenbahnfahrer, wandte sich mutig an einen Drucker

[Bild auf Seite 153]

Grigorij Gatilow predigte den Mitinsassen in seiner Zelle

[Bilder auf Seite 157]

Hohe Blumen dienten als Sichtschutz bei Bibelbesprechungen

[Bild auf Seite 161]

Miniaturausgabe eines „Wachtturms“ in Originalgröße

[Bild auf Seite 164]

„Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR“

[Bild auf Seite 170]

Die Brüder versteckten ihre „Schätze“ in Geheimfächern in Koffern oder in ihren Schuhen

[Bild auf Seite 173]

Iwan Klimko

[Bild auf Seite 175]

In eine Streichholzschachtel passten 5 bis 6 extrem fein geschriebene „Wachttürme“

[Bild auf Seite 184, 185]

In einem Lager in Mordowien hat in all den Jahren keiner der Brüder je ein Gedächtnismahl versäumt

[Bild auf Seite 194]

Nikolaj Guzuljak unterhielt sich mit der Frau des Lagerkommandanten über die Bibel

[Bilder auf Seite 199]

Internationale Kongresse

1989 kamen zu den drei internationalen Kongressen in Polen auch russische Brüder und Schwestern

Warschau

Chorzów

Posen

[Bild auf Seite 202]

Nach der Registrierung (von links nach rechts): Theodore Jaracz, Michail Dasewitsch, Dmitrij Liwyj, Milton Henschel, ein Mitarbeiter des Justizministeriums, Ananij Grogul, Aleksej Werschbizkij und Willi Pohl

[Bilder auf Seite 205]

Milton Henschel auf dem internationalen Kongress „Lichtträger“ im Kirow-Stadion (Sankt Petersburg)

[Bild auf Seite 206]

In Solnetschnoje wurde ein Grundstück erworben

[Bild auf Seite 207]

Aulis und Eva Lisa Bergdahl waren beim ersten Trupp für das Bauprojekt in Solnetschnoje dabei

[Bild auf Seite 208]

Hannu und Eija Tanninen kamen nach Sankt Petersburg

[Bild auf Seite 210]

Roman Skiba und seine Frau Ljudmila hatten im Bezirksdienst große Entfernungen zurückzulegen

[Bild auf Seite 220]

Brüder mit der Literatur im Hafen von Wladiwostok

[Bild auf Seite 224]

Arno und Sonja Tüngler haben in ihrem Dienst für Jehova in Russland viel Schönes erlebt

[Bild auf Seite 226, 227]

Eine Zusammenkunft im Wald bei Sankt Petersburg, damals noch Leningrad (1989)

[Bild auf Seite 238]

Das russische Zweigbüro betreut die Übersetzung in über 40 Sprachen

[Bild auf Seite 243]

Die erste Pionierdienstschule in Sankt Petersburg im Juni 1996

[Bilder auf Seite 246]

Predigen in Russland

Auf den Feldern in der Oblast Perm und bei Nartkala

Auf den Straßen von Sankt Petersburg

Von Haus zu Haus in Jakutsk

Auf den Märkten von Saratow

[Bilder auf Seite 252, 253]

Russisches Zweigbüro

Luftaufnahme und Bilder von den Wohngebäuden und der Umgebung

[Bild auf Seite 254]

Bezirkskongress in Moskau mit 23 537 Anwesenden (2006)

[Bild auf Seite 254]

Luschniki-Stadion