29. AUGUST 2017
RUSSLAND
Russland erklärt die Bibel für „extremistisch“
Am 17. August 2017 erklärte das Stadtgericht Wyborg die russische Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift für „extremistisch“ — eine Bibel, die von Jehovas Zeugen in zahlreichen Sprachen herausgegeben wird a. Mit dieser Entscheidung wird zum ersten Mal die Bibel in einem Land verboten, in dem sich die meisten Staatsbürger als christlich bezeichnen.
Ende Juli 2017 setzte das Stadtgericht Wyborg die Verhandlung fort, die im April 2016 vertagt worden war: Es sollte Zeit eingeräumt werden, ein „Sachverständigengutachten“ über die Bibel zu erstellen, um zu klären, ob die Neue-Welt-Übersetzung als „extremistisch“ einzustufen sei. Damit gab der Richter der Forderung der Leningrad-Finjlandskij-Staatsanwaltschaft für Verkehrswesen statt. Das Gutachten wurde nach mehreren Verzögerungen schließlich fertiggestellt und dem Gericht am 22. Juni 2017 vorgelegt. Darin wird die Bibel zu „extremistischer“ Literatur erklärt. Damit folgt es dem Muster früherer gerichtlich angeordneter Gutachten, in denen die Literatur von Jehovas Zeugen von sogenannten Experten untersucht wurde.
Theologische Ansichten beeinflussen „Gutachten“
Um das Ergebnis des Gutachtens zu verteidigen, ging man so weit zu behaupten, dass die Neue-Welt-Übersetzung „keine Bibel“ sei. Ziel war es, das Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten zu umgehen, welches untersagt, heilige Schriften wie die Bibel als extremistisch einzustufen. Jaroslaw Siwulskij, ein Vertreter der European Association of Jehovah’s Christian Witnesses, stellte fest: „Russische Behörden haben schon häufig das Anti-Extremismus-Gesetz falsch auf unsere Religionsausübung angewandt. In diesem Fall versucht man sogar dieses Gesetz zu umgehen und behauptet, die Neue-Welt-Übersetzung sei keine Bibel. Unsere Übersetzung als „extremistisch“ darzustellen, zeigt wieder einmal, wozu russische Behörden bereit sind, um Jehovas Zeugen zu verleumden.“
„Die Bibel, der Koran, der Tanach und der Kanjur sowie Inhalte und Zitate dieser Bücher dürfen nicht als extremistisch deklariert werden.“ (Ergänzung zum Gesetz der Russischen Föderation über die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten, Artikel 3.1: Ausnahmen für religiöse Schriften bei der Anwendung des russischen Anti-Extremismus-Gesetzes)
In der Neuen-Welt-Übersetzung wird Gottes Eigenname — dargestellt durch das Tetragramm b — mit „Jehova“ wiedergegeben. Im Gutachten lieferte dieser Umstand den Hauptvorwand für die Behauptung, diese Übersetzung sei „keine Bibel“. Rechtsanwälte, die Jehovas Zeugen vertreten, stellten diese Argumentation mit einigen Beweisen infrage. Dem Gericht wurden 10 russische Bibeln präsentiert, in denen der Name Jehova vorkommt. Die Anwälte verwiesen auch auf Gedichte von Zwetajewa und Puschkin, Bücher von Kuprin, Gontscharow und Dostojewski sowie Auszüge aus der klassischen russischen Literatur. Außerdem machte man auf die russische Makarios-Bibel aus dem 19. Jahrhundert aufmerksam. In dieser orthodoxen Übersetzung kommt der Name Jehova mehr als 3 500 Mal vor.
Zudem ließ das Gericht die Aussagen zweier Experten zu, die die Neue-Welt-Übersetzung als eine Variante der Heiligen Bibel bestätigten. Bei der Verhandlung am 9. August sagte der angesehene Sprachwissenschaftler Professor Anatolij Baranow c aus, die Unterschiede zu der synodalen russischen Übersetzung bedeuten nicht, dass die Neue-Welt-Übersetzung keine Bibel sei. Abweichende Wortlaute unter den Bibelübersetzungen seien normal. Um die Genauigkeit einer modernen Bibelübersetzung objektiv zu ermitteln, muss sie mit den Texten der Ursprache (hebräisch, aramäisch oder griechisch) verglichen werden und nicht mit älteren Übersetzungen derselben Sprache.
Am 16. August äußerte sich der Religionswissenschaftler Michail Odinstow d vor Gericht über die Neue-Welt-Übersetzung. Er erklärte, dass sie sich von anderen russischen Bibeln im Wesentlichen nicht unterscheidet und sich an den allgemein anerkannten Bibelkanon hält. Was den Gottesnamen „Jehova“ betrifft, bestätigte Herr Odinstow dessen Verwendung in anderen russischen Übersetzungen, einschließlich der synodalen russischen Bibel, in der der göttliche Name zehnmal erscheint.
In dem Gutachten wird außerdem argumentiert, die Neue-Welt-Übersetzung sei keine Bibel, da sie nirgendwo ausdrücklich erklärt, eine zu sein. Herr Odinstow erläuterte jedoch, Ausdrücke wie „Schrift“ und „Heilige Schrift“ eignen sich durchaus als Bezeichnung für die Bibel.
Die Anhörung zur Neuen-Welt-Übersetzung — Jehovas Zeugen wieder Opfer ungerechter Behandlung
Das Urteil des Stadtgerichts Wyborg ist noch nicht rechtskräftig und die Neue-Welt-Übersetzung steht bisher nicht auf der „Föderalen Liste extremistischen Materials“. Innerhalb von 30 Tagen werden Jehovas Zeugen beim Regionalgericht Leningrad Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.
Seit über einem Jahrzehnt erleben Jehovas Zeugen systematische, von der Regierung gesteuerte Verfolgung. Nun kommt mit dem Verbot der Bibel in ihrer Religionsausübung ein weiteres Unrecht hinzu. Diese Kampagne erlebte am 17. Juli ihren Höhepunkt, als das Oberste Gericht Russlands seine frühere Entscheidung bestätigte, die Aktivitäten von Jehovas Zeugen in Russland unter Strafe zu stellen. Mit der jüngsten Entscheidung des Stadtgerichts Wyborg führt Russland seine ungerechte Behandlung von Jehovas Zeugen fort.
Das Verfahren gegen die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift im Rückblick
17. August 2017
Das Stadtgericht Wyborg stimmt dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu, die Neue-Welt-Übersetzung als „extremistisches Material“ zu deklarieren
9. August 2017
Das Stadtgericht Wyborg setzt die Anhörung zur Untersuchung der Neuen-Welt-Übersetzung fort
6. Juni 2017
Der Bericht des Zentrums für soziokulturelle Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass die Neue-Welt-Übersetzung „keine Bibel sei“, sondern „extremistische“ Literatur
23. Dezember 2016
Der Oberste Gerichtshof Russlands bestätigt die Entscheidung der Vorinstanz, alle im Juli 2015 beschlagnahmten Bibeln einzubehalten
26. April 2016
Das Stadtgericht Wyborg beauftragt das Zentrum für soziokulturelle Gutachten mit einer Untersuchung der Neuen-Welt-Übersetzung auf Hinweise von „Extremismus“
15. März 2016
Das Stadtgericht Wyborg folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die die Neue-Welt-Übersetzung für „extremistisch“ erklären möchte, und beginnt mit der Anhörung
29. Dezember 2015
Das Schiedsgericht in Sankt Petersburg und der Region Leningrad lehnt eine Beschwerde von Jehovas Zeugen bezüglich der rechtswidrigen Einbehaltung der Bibeln ab
13. August 2015
Zollbeamte in Wyborg ordnen an, die 2 016 Bibeln aus der Sendung vom 13. Juli einzubehalten, da sich darin Hinweise auf „Extremismus“ befinden könnten
14. Juli 2015
Zollbeamte in Wyborg behalten drei Bibeln für ein „Sachverständigengutachten“ ein, um die Beschlagnahmung zu rechtfertigen
13. Juli 2015
Zollbeamte in Wyborg stoppen eine Sendung mit ausschließlich russischen Ausgaben der Neuen-Welt-Übersetzung
a Die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schriften gibt es als Voll- oder Teilausgabe in über 120 Sprachen. Bisherige Auflage: über 200 Millionen.
b Das Tetragrammaton (יהוה) ist Gottes Eigenname in Hebräisch, transliteriert als JHWH oder JHVH. In den hebräischen Schriften (auch Altes Testament genannt) kommt es fast 7 000 Mal vor.
c Professor Baranow ist Mitglied im Fachgremium zur Zertifizierung von Sprachwissenschaftlern am Russischen Zentrum für Rechtsgutachten und Leiter der Abteilung für Experimentelle Lexikografie am Institut für Russische Sprache der Russischen Akademie der Wissenschaften.
d Professor Odintsow ist leitender Experte und Mitglied des Akademischen Rats des russischen Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte und Vorsitzender der Vereinigung der Religionswissenschaftler.