18. NOVEMBER 2016
RUSSLAND
TEIL 2
Russland droht, die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift zu verbieten — Experten äußern scharfe Kritik
Dies ist der zweite Artikel einer dreiteiligen Serie von Exklusivinterviews mit anerkannten Wissenschaftlern für Religion, Politik und Soziologie sowie Experten im Bereich für Osteuropäische Geschichte.
ST. PETERSBURG (Russland): Russische Behörden bezeichnen die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (eine Bibel, die von Jehovas Zeugen herausgegeben wird) als „extremistisch“ und versuchen diese zu verbieten.
Falls das Gericht im Sinne der Staatsanwaltschaft entscheidet, würde dadurch paradoxerweise „die Ergänzung zu Artikel 3 des Gesetzes zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten verletzt, die Herr Putin im Herbst 2015 unterschrieben hat“, sagt Dr. Jekaterina Elbakjan, Professorin für Soziologie und Management sozialer Prozesse (Akademie für Arbeit und soziale Beziehungen in Moskau). Die Ergänzung zu Artikel 3 besagt eindeutig: „Die Bibel, der Koran, der Tanach und der Kanjur, deren Inhalte und Zitate daraus können nicht als extremistisches Material eingestuft werden.“
„Wer hätte gedacht, dass die Verabschiedung eines Gesetzes, das bestimmten heiligen Texten Immunität gewährt, dazu führt, dass andere heilige Texte verboten werden?“, bemerkt Dr. Roman Lunkin (Vorsitzender des Zentrums für Religions- und Gesellschaftswissenschaften am Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau). „Die ersten, die darunter zu leiden haben, sind Jehovas Zeugen mit ihrer Bibelübersetzung.“
„Als Vertragsstaat des IPbpR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) würde Russland mit dem Versuch, so eine Bibel zu verbieten, im Widerspruch zu den Konventionen zur Religionsfreiheit handeln“, erklärt der Politikprofessor Dr. Jeffrey Haynes (Direktor des Centre for the Study of Religion, Conflict and Cooperation an der London Metropolitan University).
Das Verfahren zu einem möglichen Verbot der Neuen-Welt-Übersetzung findet vor dem Ortsgericht in Wyborg statt, 138 Kilometer nordwestlich von St. Petersburg. Am 26. April 2016, dem zweiten Tag der Voranhörungen, folgte der Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, das Verfahren auszusetzen, um eine gerichtlich angeordnete Analyse der Neuen-Welt-Übersetzung durchführen zu lassen. Jehovas Zeugen wurde keine Gelegenheit gegeben, Stellung zu nehmen, und das Gericht beauftragte das Zentrum für soziokulturelle Gutachten damit, diese Analyse durchzuführen. Eine negative Bewertung der Neuen-Welt-Übersetzung durch das gleiche Institut diente als Grundlage für die Eröffnung des Verfahrens. Dass dieses Institut erneut damit beauftragt wird, die Neue-Welt-Übersetzung zu analysieren, verstößt gegen einen Präzedenzfall des Obersten Gerichtshofes von Russland. Danach kann ein Experte nicht erneut beauftragt werden, wenn seine Meinung in dieser Sache bereits gehört wurde.
Während die gerichtlich angeordnete Analyse aussteht, äußern sich Fachleute anerkennend zur Bibelübersetzung von Jehovas Zeugen. Einer dieser Fachleute, Dr. Gerhard Besier (Direktor des Sigmund-Neumann-Instituts für Freiheits- und Demokratieforschung), sagt: „Die Neue-Welt-Übersetzung hat überall auf der Welt durch Bibelwissenschaftler verschiedener Religionsgemeinschaften eine hohe Anerkennung erfahren.“
Das SOWA-Zentrum (Informations- und Analyse-Zentrum in Moskau) erklärt in seiner Pressemitteilung vom Februar 2016 unter der Rubrik Misuse of anti-extremism (Missbrauch des Anti-Extremismus-Gesetzes) Folgendes: „Wir finden in der Neuen-Welt-Übersetzung keine Anzeichen von Extremismus.“ Seitdem hat das SOWA-Zentrum in fast jeder seiner monatlichen Pressemitteilungen das Vorgehen Russlands angeprangert, beispielsweise in der Mitteilung vom Juni 2016. Darin heißt es: „Wir möchten noch einmal wiederholen, dass wir die Verfolgung von Jehovas Zeugen in Russland sowie das Verbot ihrer Literatur und Vereinigungen als religiöse Diskriminierung betrachten.“
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