Zurück zum Inhalt

15. FEBRUAR 2018
ARMENIEN

Armeniens Weg zur Anerkennung des Rechts auf Wehrdienst­verweigerung aus Gewissensgründen

Armeniens Weg zur Anerkennung des Rechts auf Wehrdienst­verweigerung aus Gewissensgründen

Ein kürzlich gefälltes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verbesserte den Schutz junger Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Am 12. Oktober 2017 schuf der EGMR im Fall von Adjan und andere gegen Armenien einen Präzedenzfall, bei dem es um die Art des Zivildienstes ging, der diesen Männern angeboten werden sollte.

Lange Zeit erkannte die Rechtsprechung des EGMR die Rechte von Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen nicht an, was Verfolgung und Inhaftierung vieler Betroffener zur Folge hatte. Der Standpunkt des Gerichts änderte sich jedoch mit dem Urteil im Fall Bajatjan gegen Armenien aus dem Jahr 2011, das die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grundrecht anerkannte. In seinem jüngeren Urteil im Fall Adjan entschied der EGMR, dass Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen Anrecht auf einen alternativen Dienst haben, der rein ziviler Natur ist und keinen Strafcharakter hat.

Eine kurze Geschichte der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Armenien zeigt, wie günstige Urteile in Fällen wie Bajatjan, Adjan und andere den Umgang der Regierung mit Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen grundlegend veränderten.

Armeniens Verpflichtung und anschließendes Versäumnis, einen Zivildienst anzubieten

Keine Alternative, sondern Bestrafung. Mit dem Eintritt in den Europarat verpflichtete sich Armenien im Jahr 2001, ein Zivildienstgesetz zu verabschieden, das den europäischen Normen entspricht. Dies bedeutet einen Zivildienst, der nicht unter Dienstaufsicht des Militärs steht und dessen Länge keinen Strafcharakter besitzt. Armenien erklärte mit dem Eintritt auch die Haftentlassung aller Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen a. Allerdings war es dieser Verpflichtung noch nicht nachgekommen, als Wahan Bajatjan, ein Zeuge Jehovas und Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, zum Wehrdienst einberufen wurde. Im Jahr 2002 wurde er wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt und inhaftiert. Armenien bot zu diesem Zeitpunkt keinen Zivildienst an. Mit der Begründung, Armenien habe mit der Freiheitsstrafe sein Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit verletzt, reichte Herr Bajatjan im Jahr 2003 beim EGMR Beschwerde ein.

Eine unzulängliche Alternative — dann Bestrafung. Im Jahr 2004 verabschiedete Armenien ein Gesetz für einen Dienst als Alternative zur Wehrpflicht. Eine Anzahl junger Zeugen Jehovas akzeptierte diese Möglichkeit anstelle der Wehrpflicht. Als sie bereits einberufen worden waren, stellten sie jedoch fest, dass das Programm nicht einer zivilen Behörde, sondern dem Militär unterstellt war. Nach Benachrichtigung der vorgesetzten Stellen blieben sie ihrem alternativen Dienst fern und wurden deswegen verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Einige wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im Mai 2006 reichten Hajk Chaschatrjan und 18 andere Zeugen Jehovas, alle Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, Beschwerde beim EGMR ein. Sie begründeten diese damit, ihre Rechte seien durch diese illegale Strafverfolgung verletzt worden. b

Jahre ohne Fortschritt. Jahrelang unternahm Armenien keine Schritte, um das Zivildienstgesetz zu ändern. Weiterhin lehnten die Zeugen Jehovas den Zivildienst als unannehmbar ab und wurden dafür inhaftiert. Zwischen 2004 (als das Zivildienstgesetz verabschiedet wurde) und 2013 (als man es schließlich änderte) wurden 317 Zeugen verurteilt und verbüßten Haftstrafen zwischen 24 und 36 Monaten.

In dieser Zeit gab es keine Fortentwicklung der Rechtsprechung des EGMR in dieser Angelegenheit. 2009 prüfte er Herrn Bajatjans Beschwerde, in der vorgetragen wurde, sein Recht auf Wehrdienstverweigerung sei unter Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt. Dieser Artikel garantiert das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Der EGMR war allerdings an seine jahrzehntealte Rechtsprechung gebunden. Er vertrat daher die Ansicht, es sei zuerst die Entscheidung jedes Staates, das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anzuerkennen. Wenn der Staat dies verweigere, dann könne Artikel 9 nicht vor einer strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung im Falle einer Wehrdienstverweigerung schützen. Da diese Rechtsprechung nicht mehr den geltenden internationalen Normen zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu entsprechen schien, beantragten Herrn Bajatjans Anwälte, den Fall zur Überprüfung an die Große Kammer des EGMR zu verweisen.

Anhörung vor der Großen Kammer des EGMR im Fall Bajatjan gegen Armenien am 24. November 2010

Ein Durchbruch. Die erneute Prüfung von Herrn Bajatjans Beschwerde vor der Großen Kammer des EGMR erwies sich als Wendepunkt. Am 7. Juli 2011 erklärte der EGMR erstmals eindeutig, die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen sei als Recht unter Artikel 9 der Konvention geschützt. Er führte an, dass die Konvention ein „lebendiges Instrument“ darstellt und im Lichte der aktuellen Bedingungen sowie eines „sich bereits annähernden Konsenses — innerhalb und außerhalb Europas“ — ausgelegt werden muss. Das Urteil der Großen Kammer stützte nicht nur das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Europa, sondern verpflichtete Armenien auch, Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen eine annehmbare Alternative zum Wehrdienst anzubieten.

„Eine Wehrdienstverweigerung, die von einem ernsthaften und unüberwindbaren Konflikt zwischen der Verpflichtung zum Wehrdienst und dem Gewissen einer Person oder ihrer tiefen und aufrichtigen religiösen oder anderweitigen Weltanschauung getragen wird, stellt eine Überzeugung oder Weltanschauung mit ausreichender Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Erheblichkeit dar, um die Garantien des Artikels 9 auf den Plan zu rufen.“ (Bajatjan gegen Armenien [GC], Nr. 23459/03, § 110, EGMR 2011).

Armenien ändert sein Zivildienstgesetz

Fehlen eines akzeptablen Zivildienstes immer noch ein Thema. Im Sommer 2011 wurden vier Zeugen, unter ihnen Artur Adjan, wegen ihrer Verweigerung eines Dienstes als Alternative zur Wehrpflicht, der unter Militärkontrolle stand, verurteilt und inhaftiert. Mit der Begründung, Armenien habe ihre Rechte verletzt, reichten sie beim EGMR Beschwerde ein. Die Alternative, die von Armenien seit 2004 angeboten werde, entspräche nicht den europäischen Normen und sei unvereinbar mit ihrem Gewissen.

Das Problem eines Zivildienstes unter der Dienstaufsicht des Militärs besteht weiter. Am 27. November 2012 veröffentlichte der EGMR sein Urteil im Fall Chaschatrjan und andere gegen Armenien. Es ging dabei um 19 Zeugen, die den Zivildienst abgebrochen hatten, weil er unter der Dienstaufsicht des Militärs statt einer zivilen Behörde stand. Der EGMR befand, dass die Strafverfolgung und die Festnahme der Zeugen rechtswidrig waren. In der Urteilsbegründung hieß es zwar, dass der Beschwerdeführer die Dienstaufsicht des Militärs über den Zivildienst gerügt hatte, aber das Gericht äußerte sich im Fall Chaschatrjan nicht dazu.

Eine echte Alternative. Im Sommer 2013 änderte Armenien schließlich das Gesetz, um einen Zivildienst gemäß der Verpflichtung aus dem Jahr 2001 einzuführen. Bis Oktober 2013 wurden die meisten in armenischen Gefängnissen inhaftierten Zeugen Jehovas frei gelassen. Einige, deren Haftstrafe zu diesem Zeitpunkt fast abgelaufen war, entschlossen sich dazu, das Ende der Haftzeit abzuwarten. Seit diesem Zeitpunkt wird Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen der Zivildienst angeboten.

Fortentwicklung der Rechtsprechung des EGMR

Die beiden Urteile, Bajatjan und Chaschatrjan, zeigen deutlich, dass die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein Grundrecht ist und vom armenischen Staat respektiert werden muss. Der EGMR sprach jedoch in diesen Urteilen nicht klar aus, dass der Zivildienst nicht unter der Dienstaufsicht des Militärs stehen dürfe.

Diese Lücke wurde geschlossen, als der EGMR am 12. Oktober 2017 sein Urteil im Fall Adjan und andere gegen Armenien veröffentlichte. Weil das Recht auf Wehrdienstverweigerung geschützt sei, so argumentierte der EGMR im Fall Adjan, sei Armenien verpflichtet, Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen eine akzeptable Alternative zum Wehrdienst zu bieten, die den europäischen Normen entspräche. Der Zivildienst dürfe nicht unter der Dienstaufsicht des Militärs stehen und keinen Strafcharakter besitzen. Der EGMR sprach den Männern eine Entschädigung für die Bestrafung zu, die sie wegen der Verweigerung eines unzulänglichen Zivildienstes erdulden mussten.

„Der Gerichtshof betrachtet ein durch Art. 9 der Konvention gewährleistetes Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen als fiktiv, wenn es einem Staat erlaubt, einen alternativen Dienst auf eine Art und Weise zu organisieren und durchzuführen, die es versäumt — ob gesetzlich oder tatsächlich — eine Alternative zur Wehrpflicht anzubieten, die ziviler Art ist und weder einen abschreckenden noch einen bestrafenden Charakter hat“ (Adjan und andere gegen Armenien, Nr. 75604/11, § 67, EGMR 2017)

Lösung des Problems

Mit Stand Januar 2018 haben nun 161 Zeugen Jehovas in Armenien ihren Zivildienst abgeschlossen. 105 Zeugen Jehovas leisten derzeit den Zivildienst. Sowohl die Zeugen Jehovas als auch die Aufsichtsbehörden des alternativen Dienstes sind mit dessen Erfolg zufrieden. Er deckt einen echten Bedarf in der Gesellschaft und ist akzeptabel für Männer, die eine Alternative zum Wehrdienst wünschen. Zudem beseitigt es ein Problem in Verbindung mit der Verletzung von Menschenrechten, das in Armenien bestanden hatte.

André Carbonneau, einer der Anwälte, der die Zeugen Jehovas in Armenien vertreten hatte, sprach sich lobend über die armenische Regierung für die Beilegung dieses Problems aus. Er sagte: „Wenn wir die Urteile des EGMR gegen Armenien betrachten, sehen wir den Fortschritt in dieser Angelegenheit seit dem Fall Bajatjan im Jahr 2011. Die Urteile in den Fällen Chaschatrjan und Adjan ebnen den Weg für einen starken Schutz des Zivildienstes, der nicht unter dem Einfluss des Militärs steht. Wir hoffen, dass sich andere Länder ohne echte Alternative zur Wehrpflicht Armeniens erfolgreiche Umsetzung des Zivildienstes zum Vorbild nehmen werden; eine für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen annehmbare Alternative, die dem Gemeinwohl dient.“

Eine Auswahl von Ländern mit obligatorischer Wehrpflicht und ohne akzeptablen alternativen Dienst

 

Kein Dienst als Alternative zur Wehrpflicht

Alternativer Dienst hat Strafcharakter

Recht auf Wehrdienstverweigerung anerkannt, alternativer Dienst wird jedoch nicht eingeführt

Aserbaidschan

 

 

X

Weißrussland

 

X

 

Eritrea

X

 

 

Litauen

X c

 

 

Singapur

X

 

 

Südkorea

X

 

 

Tadschikistan

 

 

X

Türkei

X

 

 

Turkmenistan

X

 

 

Zeitachse

  1. 12. Oktober 2017

    Der EGMR veröffentlicht sein Urteil im Fall Adjan und andere gegen Armenien

  2. Januar 2014

    Die ersten Zeugen Jehovas beginnen ihre Arbeit im Rahmen des neu eingeführten Zivildienstes

  3. 12. November 2013

    Erstmals seit mehr als 20 Jahren sind keine Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen inhaftiert

  4. 8. Juni 2013

    Armenien verabschiedet Gesetzesänderungen zum Zivildienst, die im Oktober 2013 in Kraft treten

  5. 27. November 2012

    Der EGMR veröffentlicht sein Urteil im Fall Chaschatrjan und andere gegen Armenien

  6. 10. Januar 2012

    Der EGMR folgt in den Fällen Bucharatjan gegen Armenien und Zaturjan gegen Armenien der Entscheidung im Fall Bajatjan und befindet, dass Armenien mit der Inhaftierung der Zeugen Jehovas gegen den Artikel 9 verstoßen hat

  7. 7. Juli 2011

    Im Fall Bajatjan gegen Armenien stellt die Große Kammer des EGMR eine Verletzung der Gewissensfreiheit (Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention) fest und schützt mit 16 zu 1 Stimmen das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen

  8. 27. Oktober 2009

    Der EGMR veröffentlicht das Urteil im Fall Bajatjan gegen Armenien, in dem er entscheidet, dass Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anwendbar ist; der Fall wird an die Große Kammer des EGMR verwiesen

  9. 2004

    Armenien erlässt ein Gesetz für einen alternativen Dienst — Dienst unter der Dienstaufsicht des Militärs

  10. 2001

    Armenien verpflichtet sich, ein Zivildienstgesetz zu verabschieden

a Die Stellungnahme Nr. 221 (2000) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats empfahl, dass Armenien als Mitglied des Europarats unter der Bedingung eingeladen werden sollte, dass „Armenien die folgenden Verpflichtungen einhält: ... innerhalb von drei Jahren ab Beitritt in Übereinstimmung mit den europäischen Normen ein Zivildienstgesetz zu erlassen und in der Zwischenzeit alle Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, die zu einer Haftstrafe oder zu Disziplinarmaßnahmen verurteilt worden waren, zu begnadigen und ihnen die Wahl zu ermöglichen, einen waffenfreien Wehrdienst oder Zivildienst zu leisten, sobald ein entsprechendes Gesetz in Kraft treten würde.“

b Armeniens Strafverfolgung und Inhaftierung von 19 Zeugen war rechtswidrig, da kein armenisches Gesetz die vorzeitige Beendigung des Zivildienstes verbot, als sie im Jahr 2005 verurteilt wurden.

c Litauens „alternativer nationaler Verteidigungsdienst“ steht unter der Dienstaufsicht des Militärs.