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Taoismus und Konfuzianismus — Die Suche nach dem Weg des Himmels

Taoismus und Konfuzianismus — Die Suche nach dem Weg des Himmels

Kapitel 7

Taoismus und Konfuzianismus — Die Suche nach dem Weg des Himmels

Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus bilden die drei Hauptreligionen Chinas und des Fernen Ostens. Doch im Unterschied zum Buddhismus, der zu einer Weltreligion geworden ist, sind der Taoismus und der Konfuzianismus im wesentlichen auf China und die Gebiete beschränkt geblieben, in denen sich der Einfluß der chinesischen Kultur behauptet hat. Über die gegenwärtige Zahl ihrer Anhänger in China liegen zwar keine offiziellen Angaben vor, doch der Taoismus und der Konfuzianismus zusammen haben in den letzten 2 000 Jahren das religiöse Leben von nahezu einem Viertel der Weltbevölkerung beherrscht.

1. (Einleitung inbegriffen.) (a) Wo werden der Taoismus und der Konfuzianismus ausgeübt, und wie weit verbreitet sind sie? (b) Welchem Zeitabschnitt wenden wir uns nun zu, um ihre Lehren zu untersuchen?

„LASST hundert Blumen blühen; laßt hundert Schulen streiten.“ Diese berühmt gewordenen Worte, die Mao Tse-tung von der Volksrepublik China im Jahre 1956 in einer Rede äußerte, waren in Wirklichkeit eine Umschreibung der Redewendung, mit der chinesische Gelehrte Chinas Epoche zwischen dem fünften und dritten Jahrhundert v. u. Z. — die sogenannte „Zeit der Streitenden Reiche“ — zu bezeichnen pflegten. Zu jener Zeit hatte sich die mächtige Choudynastie (ca. 1122—256 v. u. Z.) in einen losen Verbund von Feudalstaaten aufgelöst, die zum Leidwesen des einfachen Volkes ständig Krieg führten.

2. (a) Was führte zur Entstehung der „Hundert Schulen“? (b) Was ist davon übriggeblieben?

2 Die durch die Kriege verursachten Wirren und Nöte schwächten den Einfluß der traditionellen Herrscherklasse erheblich. Das gewöhnliche Volk war nicht mehr geneigt, sich den Schrullen und Launen der Adeligen zu fügen und die Konsequenzen stillschweigend hinzunehmen. Das hatte zur Folge, daß Ideen und Bestrebungen, die lange unterdrückt worden waren, plötzlich wie „hundert Blumen“ emporschossen. Verschiedene Geistesrichtungen unterbreiteten ihre Ideen in bezug auf Staatswesen, Gesetz, Gesellschaftsordnung, Verhalten und Ethik sowie in bezug auf Landwirtschaft, Musik und Literatur, durch deren Verwirklichung sie das Leben wieder zu normalisieren hofften. Sie wurden als die „Hundert Schulen“ bekannt. Die meisten hatten aber auf die Dauer keinen Erfolg. Zwei dieser Schulen erlangten jedoch solch große Bedeutung, daß sie das Leben in China über 2 000 Jahre beeinflußten. Es handelt sich dabei um die, die schließlich als Taoismus und Konfuzianismus bekannt wurden.

Tao — Was ist das?

3. (a) Was verstehen die Chinesen unter dem Begriff Tao? (b) Was betrachteten die Chinesen anstelle eines Schöpfers als Ursache aller Dinge? (Vergleiche Hebräer 3:4.)

3 Um zu verstehen, wie es kam, daß der Taoismus und der Konfuzianismus einen solch starken und bleibenden Einfluß auf die Bevölkerung Chinas, Japans, Koreas und umliegender Länder ausüben konnten, muß man einiges über den fundamentalen chinesischen Begriff Tao wissen. Das Wort selbst bedeutet „Weg, Straße oder Pfad“. Im erweiterten Sinn kann es auch „Methode, Prinzip oder Lehre“ bedeuten. Für die Chinesen waren die Harmonie und die Ordnung, die sie im Universum beobachteten, Manifestationen des Tao — einer Art göttlichen Willens oder göttlicher Gesetzgebung, die im Universum vorhanden ist und es lenkt. Anders ausgedrückt, statt an einen Schöpfergott zu glauben, der das Universum beherrscht, glaubten sie an eine Vorsehung, einen Willen des Himmels oder einfach an den Himmel selbst als die Ursache aller Dinge.

4. Wie wandten die Chinesen das Tao auf menschliche Angelegenheiten an? (Vergleiche Sprüche 3:5, 6.)

4 Auf menschliche Angelegenheiten bezogen, dachten die Chinesen, daß der Begriff des Tao der natürliche, rechte Weg ist, alles zu tun, und daß alles und jeder einzelne seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Aufgabe hat. Sie glaubten zum Beispiel, daß das Land Frieden und Wohlstand genieße, wenn der Herrscher seine Pflicht erfülle, indem er das Volk gerecht behandle und die dem Himmel zustehenden Opferriten durchführe. In ähnlicher Weise würde, sofern die Menschen bereit wären, den Weg (das Tao) herauszufinden und ihm zu folgen, alles harmonisch, friedlich und erfolgreich sein. Würden sie ihm aber zuwiderhandeln oder sich ihm widersetzen, so wären Chaos und Unheil die Folge.

5. (a) Wie betrachtet der Taoismus das Tao? (b) Von welchem Standpunkt aus betrachtet der Konfuzianismus das Tao? (c) Welche Fragen erfordern eine Antwort?

5 Die Idee, sich dem Tao anzugleichen und es in seinem Fluß nicht zu stören, ist ein zentrales Element des philosophischen und religiösen Denkens der Chinesen. Der Taoismus und der Konfuzianismus sind sozusagen zwei verschiedene Ausdrucksformen desselben Begriffs. Der Taoismus geht von einer mystischen Betrachtungsweise aus und befürwortet in seiner ursprünglichen Form Untätigkeit, Quietismus und Passivität, Abwendung von der Gesellschaft und Rückkehr zur Natur. Seine Grundidee besteht darin, daß alles gut ausgeht, wenn man die Hände in den Schoß legt, nichts tut, und die Natur ihren Lauf nehmen läßt. Der Konfuzianismus dagegen ist eine pragmatische Betrachtungsweise. Er lehrt, daß zur Erhaltung der sozialen Ordnung jeder die ihm zugedachte Rolle spielen und seine Aufgabe erfüllen muß. Zu diesem Zweck sind alle menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen kodifiziert, z. B. Herr — Diener, Vater — Sohn, Gatte — Gattin usw., und für alle sind bestimmte Richtlinien gegeben. Das gibt zwangsläufig zu folgenden Fragen Anlaß: Wie sind diese beiden Systeme entstanden? Von wem wurden sie gegründet? Wie werden ihre Lehren heute befolgt, und was haben sie in bezug auf die Suche des Menschen nach Gott getan?

Der Taoismus — anfänglich eine Philosophie

6. (a) Was ist über den Gründer des Taoismus bekannt? (b) Wieso wurde der Gründer des Taoismus unter dem Namen Laotse bekannt?

6 Der Taoismus war in seinem Anfangsstadium eher eine Philosophie als eine Religion. Sein Gründer, Laotse oder Lao-tzu, hatte die Wirren und das Chaos der damaligen Zeit satt und suchte Erleichterung, indem er sich von der Gesellschaft abwandte und zur Natur zurückkehrte. Viel ist über diesen Menschen, der im sechsten Jahrhundert v. u. Z. gelebt haben soll (und selbst das ist ungewiß), nicht bekannt. Er wurde allgemein Laotse, „alter Meister“ oder „Alter“, genannt, weil nach der Legende seine Mutter so lange mit ihm schwanger ging, daß er bei seiner Geburt bereits weißes Haar hatte.

7. Was erfahren wir über Laotse aus dem Werk „Geschichtliche Aufzeichnungen“?

7 Der einzige offizielle Bericht über Laotse ist in dem Werk Shih-chi (Geschichtliche Aufzeichnungen) von Ssu-ma Ch’ien, einem namhaften Reichsgeschichtsschreiber des zweiten und ersten Jahrhunderts v. u. Z., zu finden. Gemäß dieser Quelle war Laotses richtiger Name Li Erl. Er diente als kaiserlicher Archivar in Loyang (Zentralchina). Doch von größerer Bedeutung ist, was in diesem Werk weiter über Laotse gesagt wird:

„Laotse verbrachte den größten Teil seines Lebens in Chou. Als er den Verfall der Stadt vorhersah, verließ er sie und kam an die Grenze. Der Grenzwächter Yin-Hi sagte: ‚Der Herr will sich zurückziehen, darf ich den Herrn bitten, mir ein Buch zu schreiben.‘ Darauf schrieb Laotse ein Buch in zwei Teilen, das etwas mehr als 5 000 Worte enthielt und in dem er die Begriffe ‚der Weg‘ [Tao] und ‚die Kraft‘ [Te] behandelte. Dann entfernte er sich. Niemand weiß, wo er gestorben ist.“

8. (a) Welches Buch wird Laotse zugeschrieben? (b) Warum wird dieses Buch so unterschiedlich interpretiert?

8 Viele Gelehrte bezweifeln zwar diese Erzählung. Jedenfalls ist das Buch, das entstanden ist, als Taoteking (u. a. übersetzt: „Führung und Kraft aus der Ewigkeit“) bekannt geworden und gilt als die bedeutendste Schrift des Taoismus. Es ist in kurzen schwerverständlichen Versen geschrieben, von denen einige nur drei oder vier Worte umfassen. Aus diesem Grund und weil sich die Bedeutung einiger Buchstaben seit der Zeit Laotses beträchtlich geändert hat, wird das Buch sehr unterschiedlich interpretiert.

Kurzer Einblick in das „Taoteking“

9. Wie beschrieb Laotse das Tao im Taoteking?

9 Im Taoteking erläutert Laotse das Tao, den höchsten Weg der Natur, und wendet es auf jede Stufe menschlicher Tätigkeit an. Um einen kurzen Einblick in das Taoteking zu vermitteln, zitieren wir im nachstehenden aus der Übersetzung von Gerolf Coudenhove (1956). Über das Tao wird darin folgendes gesagt:

„Ehe Himmel und Erde bestanden,

War etwas Nebelhaftes ...

Würdig, die Mutter aller Dinge zu sein“ (Kapitel 25).

„Das Tao gebiert sie,

Das Teh ... hegt sie.

Die Stoffwelt gibt ihnen Form.

Die Umstände des Augenblicks vollenden sie.

Darum verehren alle Dinge des Alls das Tao

und schätzen das Teh [die Tugend]“ (Kapitel 51).

10. (a) Worin besteht das Ziel des Taoismus? (b) Wie wird diese taoistische Ansicht auf das menschliche Verhalten angewandt?

10 Was können wir aus diesen rätselhaften Worten schließen? Daß das Tao für Taoisten eine geheimnisvolle kosmische Kraft ist, die das stoffliche Universum hervorgebracht hat. Ziel des Taoismus ist, das Tao herauszufinden, die Welt hinter sich zu lassen und eins zu werden mit der Natur. Das zeigt sich auch in der taoistischen Ansicht über das menschliche Verhalten. Im Taoteking wird dieses Ideal wie folgt dargelegt:

„Spanne (den Bogen) bis aufs äußerste

Und du wirst wünschen, rechtzeitig

Eingehalten zu haben.

Schmiede (eine Schwertschneide) überscharf

Und die Schneide wird nicht lange halten.

Wenn Gold und Edelsteine deine Halle füllen,

Wirst du sie nicht sicher aufbewahren können.

Auf Reichtum und Ehre stolz sein,

Heißt den Samen für den eigenen Untergang säen.

Sich zurückziehen, wenn das Werk vollbracht ist,

Das ist des Himmels Weg“ (Kapitel 9).

11. Wie läßt sich das taoistische Ideal beschreiben?

11 Diese wenigen Beispiele zeigen, daß der Taoismus zumindest anfänglich eine philosophische Schule war. Um der Ungerechtigkeit, der Not, der Verwüstung und der Sinnlosigkeit entgegenzuwirken, die durch die bedrückende Herrschaft des damaligen Feudalsystems hervorgerufen worden waren, suchten die Taoisten Frieden und Harmonie zu finden, indem sie zur Tradition der Alten zurückkehrten, die gelebt hatten, bevor Könige und Minister über das gewöhnliche Volk herrschten. Das Ideal, nach dem sie strebten, war ein ruhiges, ländliches Leben im Einklang mit der Natur (Sprüche 28:15; 29:2).

Der zweite Weise des Taoismus

12. (a) Wer war Chuang Chou? (b) Was fügte er den ursprünglichen Lehren Laotses hinzu?

12 Chuang Chou (Chuang Tzu), das heißt „Meister Chuang“ (369—286 v. u. Z.), der als der bedeutendste Nachfolger Laotses galt, entwickelte dessen Philosophie noch einen Schritt weiter. In seinem Buch Chuang Chou erläuterte er nicht nur den Begriff Tao, sondern auch die Begriffe Yin und Yang, die zuerst im I-ching dargelegt wurden. (Siehe Seite 83.) Seiner Ansicht nach ist nichts wirklich unvergänglich oder absolut, sondern alles befindet sich in einem Zustand des Wechsels zwischen zwei Gegensätzen. Im Kapitel „Herbstfluten“ schrieb er:

„Der SINN [das Tao] kennt nicht Ende noch Anfang, nur für die Einzelwesen gibt’s Geburt und Tod. ... Das Dasein aller Dinge eilt dahin wie ein rennendes Pferd. Keine Bewegung, ohne daß sich etwas wandelte; keine Zeit, ohne daß sich etwas änderte. Was du da tun sollst, was nicht tun? Einfach der Wandlung ihren Lauf lassen!“

13. (a) Worin besteht nach Chuang Chous Philosophie die taoistische Lebensanschauung? (b) Durch welchen Traum ist Chuang Chou beim Volk am besten in Erinnerung geblieben?

13 Aufgrund dieser Philosophie der Trägheit hat es nach taoistischer Ansicht keinen Zweck, irgendwie in das, was die Natur in Gang gesetzt hat, eingreifen zu wollen. Früher oder später wird alles wieder zu seinem Gegensatz zurückkehren. Eine Situation mag noch so unerträglich sein, sie wird bald besser werden. Eine Situation kann noch so angenehm sein, sie wird bald vorübergehen. (Siehe im Gegensatz dazu Prediger 5:18, 19.) Ein typisches Beispiel dieser philosophischen Lebensanschauung ist ein Traum Chuang Chous, durch den er beim einfachen Volk am besten in Erinnerung geblieben ist:

„Einst träumte Dschuang Dschou [Chuang Chou], daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei.“

14. Auf welchen Gebieten ist der taoistische Einfluß zu erkennen?

14 Der Einfluß dieser Philosophie ist im Stil der Dichtkunst und der Malerei chinesischer Künstler späterer Generationen zu erkennen. (Siehe Seite 171.) Der Taoismus sollte aber nicht lange eine passive Philosophie bleiben.

Von der Philosophie zur Religion

15. (a) Zu welcher Ansicht kamen die Taoisten zufolge der Faszination, die die Natur auf sie ausübte? (b) Welche Passagen im Taoteking unterstützten diese Ansicht?

15 In dem Versuch, mit der Natur eins zu sein, wurden die Taoisten von der Zeitlosigkeit der Natur und der Rückkehr aller Dinge zu ihrem Ursprung völlig beherrscht. Sie spekulierten, daß man vielleicht durch ein Leben im Einklang mit dem Tao oder dem Weg der Natur irgendwie in die Geheimnisse der Natur vordringen und gegen physischen Schaden, gegen Krankheiten, ja sogar gegen den Tod immun werden könne. Laotse machte daraus zwar keine Streitfrage, aber gewisse Passagen im Taoteking scheinen diesen Gedanken nahezulegen. Im Kapitel 16 heißt es zum Beispiel: „Wer das Tao erlangt, ist ewig. Er wird nicht untergehen, wenn auch sein Körper zerfällt.“ *

16. Inwiefern trugen die Schriften des Chuang Chou zu den Spekulationen des Taoismus bei?

16 Chuang Chou trug ebenfalls zu solchen Spekulationen bei. In einem Dialog in dem Werk Chuang Chou fragt zum Beispiel ein mystisches Wesen ein anderes: „Du bist schon hochbetagt, und doch siehst du aus wie ein Kind. Wie kommt das?“ Die Antwort lautet: „Ich habe Tao erfahren.“ Über einen anderen taoistischen Philosophen schrieb Chuang Chou: „Nun konnte Lieh-tzu auf dem Wind reiten. In der kühlen Brise glücklich segelnd, war er fünfzehn Tage unterwegs, bevor er zurückkehrte. Unter den Sterblichen, die die Glückseligkeit erlangen, gibt es selten einen solchen Menschen.“

17. Welche taoistischen Praktiken waren auf frühere Spekulationen zurückzuführen, und was hatte dies zur Folge? (Vergleiche Römer 6:23; 8:6, 13.)

17 Geschichten wie diese beflügelten die Phantasie der Taoisten, und sie begannen, mit Meditation, Ernährungsregeln und Atemübungen zu experimentieren, durch die der körperliche Verfall und der Tod angeblich hinausgeschoben werden konnten. Bald kamen Legenden auf über Unsterbliche, die auf Wolken fliegen und beliebig erscheinen und verschwinden konnten, die unzählige Jahre auf heiligen Bergen oder fernen Inseln wohnten und vom Tau oder von Zauberfrüchten lebten. Die chinesische Geschichte berichtet, daß Shih Huang Ti, Kaiser der Ch’indynastie, im Jahre 219 v. u. Z. eine Flotte mit 3 000 Jungen und Mädchen aussandte, die die legendäre Insel P’eng-lai, den Aufenthaltsort der Seligen, entdecken sollten, um das Unsterblichkeitselixier zurückzubringen. Es erübrigt sich zu sagen, daß sie nicht mit dem Elixier zurückkehrten; doch nach der Tradition sollen sie die Inseln bevölkert haben, die heute als Japan bekannt sind.

18. (a) Was erhofften sich die Taoisten von den „Unsterblichkeitspillen“? (b) Welche anderen magischen Praktiken entwickelte der Taoismus?

18 Während der Handynastie (206 v. u. Z. bis 220 u. Z.) erlebten die magischen Praktiken des Taoismus eine neue Blüte. Kaiser Wu Ti, der zwar den Konfuzianismus als Staatslehre förderte, soll von der taoistischen Idee der leiblichen Unsterblichkeit sehr eingenommen gewesen sein. Er beschäftigte sich mit Hilfe der Alchimie besonders mit der Erfindung von „Unsterblichkeitspillen“. Nach taoistischer Ansicht entsteht Leben durch die Verbindung der gegensätzlichen Kräfte Yin und Yang (weiblich und männlich). Durch die Verschmelzung von Blei (dunkel oder Yin) und Quecksilber (hell oder Yang) ahmten die Alchimisten den Naturvorgang nach und glaubten, auf diese Weise eine Unsterblichkeitspille zu erzeugen. Die Taoisten entwickelten auch jogaähnliche Übungen, Atemtechniken, Ernährungsregeln und sexuelle Praktiken, durch die die Lebenskraft gestärkt und das Leben verlängert werden sollte. Zu ihren Utensilien gehörten Zauberamulette, von denen gesagt wurde, sie würden ihren Besitzer für Waffen unsichtbar machen und ihm Unverletzlichkeit verleihen oder ihn befähigen, auf dem Wasser zu gehen oder durch das Weltall zu fliegen. Sie hatten auch magische Siegel, die gewöhnlich mit dem Yin-Yang-Symbol versehen waren und an Gebäuden und über Toreingängen angebracht wurden, um böse Geister und wilde Tiere abzuwehren.

19. Wie wurde der Taoismus organisiert?

19 Ungefähr im zweiten Jahrhundert u. Z. wurde der Taoismus organisiert. Ein gewisser Chang Tao-ling, der magische Heilungen vollbrachte und sich mit Alchimie befaßte, gründete einen Geheimbund in Westchina. Da von jedem Mitglied eine Aufnahmegebühr von fünf Scheffel Reis erhoben wurde, erhielt seine Bewegung den Namen Fünf-Scheffel-Reis-Bewegung (wu-tou-mi tao). Chang, der behauptete, von Laotse persönlich eine Offenbarung erhalten zu haben, wurde der erste „Himmelsmeister“. Schließlich soll er es fertiggebracht haben, das Lebenselixier herzustellen, und soll, auf einem Tiger reitend, vom Berg Lung-hu (Drachen-Tiger-Berg) in der Provinz Kiangsi lebendig in den Himmel aufgefahren sein. Mit Chang Tao-ling begann eine Jahrhunderte dauernde Folge taoistischer „Himmelsmeister“, von denen jeder einzelne eine Reinkarnation Changs gewesen sein soll.

Der Herausforderung des Buddhismus begegnen

20. Wie versuchte der Taoismus, dem buddhistischen Einfluß entgegenzutreten?

20 Im siebten Jahrhundert, während der T’angdynastie (618—907 u. Z.), drang der Buddhismus in das religiöse Leben Chinas ein. Um ihm entgegenzutreten, berief sich der Taoismus darauf, eine Religion chinesischen Ursprungs zu sein. Laotse wurde zum Gott erhoben, und die taoistischen Schriften wurden kanonisiert. Tempel, Mönchs- und Nonnenklöster wurden gebaut und Mönchs- und Nonnenorden gegründet, so ungefähr nach buddhistischem Muster. Außerdem nahm der Taoismus viele Götter, Göttinnen, Feen und Unsterbliche aus der chinesischen Folklore in sein Pantheon auf, beispielsweise die „Acht Unsterblichen“ (Pa Hsien), den Gott des Herdes (Tsao Shen), Stadtgötter (Ch’eng Huang) und Türwächter (Men Shen). Das Ergebnis war eine Mischung aus buddhistischen Elementen, abergläubischen Traditionen, Spiritismus und Ahnenverehrung (1. Korinther 8:5).

21. Was ist schließlich aus dem Taoismus geworden, und wie geschah dies?

21 Mit der Zeit sank der Taoismus allmählich zu einem System des Götzenkults und des Aberglaubens herab. Jeder einzelne verehrte in den Ortstempeln seine Lieblingsgötter und -göttinnen, betete zu ihnen um Schutz vor Bösem und um Hilfe beim Erlangen irdischen Glücks. Gegen Bezahlung hielten die Priester Begräbnisfeierlichkeiten ab, suchten günstige Grundstücke aus für Gräber, Häuser und Geschäfte, verkehrten mit den Toten, vertrieben böse Geister und Gespenster, hatten ihre Feste und führten verschiedene Rituale durch. Aus der anfänglichen Schule mystischer Philosophie war eine Religion geworden, die sich durch den Glauben an unsterbliche Geister, an ein Höllenfeuer und an Halbgötter — alles Ideen, die aus den schalen Wassern der falschen Religion des alten Babylon geschöpft worden waren — besudelt hatte.

Chinas anderer berühmter Weiser

22. Welche Schule wurde in China vorherrschend, und welche Fragen sollen jetzt geklärt werden?

22 Nun haben wir die Spuren des Ursprungs, der Entwicklung und des Verfalls des Taoismus verfolgt. Vergessen wir jedoch nicht, daß dies nur eine der „Hundert Schulen“ war, die in der „Zeit der Streitenden Reiche“ in China florierten. Eine andere Schule, die schließlich in den Vordergrund trat, ja sogar vorherrschend wurde, war der Konfuzianismus. Doch wieso gelangte der Konfuzianismus zu solcher Bedeutung? Von allen chinesischen Weisen ist Konfuzius zweifellos der bekannteste außerhalb Chinas. Doch wer war Konfuzius, und was lehrte er?

23. Welche Einzelheiten über Konfuzius erfahren wir aus dem Werk „Geschichtliche Aufzeichnungen“?

23 Um Näheres über ihn zu erfahren, wenden wir uns wiederum dem Werk Shih-chi (Geschichtliche Aufzeichnungen) von Ssu-ma Ch’ien zu. Im Unterschied zu der kurzen Abhandlung über Laotse enthält es eine ausführliche Lebensbeschreibung des Konfuzius. Hier folgen einige Einzelheiten über seine Person, aus einer Übersetzung des chinesischen Gelehrten Lin Yutang zitiert:

„Konfuzius wurde in Tschou, einer kleinen Provinzstadt der Grafschaft Ch’angping im Staat Lu, geboren. ... [Seine Mutter] betete auf dem Berg Ni Kiu und empfing daraufhin Konfuzius im zweiundzwanzigsten Jahr des Grafen Hsiang von Lu (551 v. Chr.). Bei seiner Geburt war auf seinem Kopf eine auffallende Erhebung, weshalb man ihn ‚Kiu‘ („Hügel“) nannte. Sein Beiname war Dschung-ni und sein Familienname K’ung.“ *

24. Was geschah früh im Leben des Konfuzius?

24 Kurz nach seiner Geburt starb sein Vater, aber seine Mutter ließ ihm, obwohl sie arm war, eine gute Bildung zukommen. Der Junge entwickelte ein großes Interesse an Geschichte, Dichtung und Musik. Gemäß den Analekten, einem der konfuzianischen Vier Bücher, widmete er sich schon mit 15 Jahren wissenschaftlichen Studien. Als Siebzehnjähriger erhielt er eine bescheidene Verwalterstelle bei der Regierung seines Heimatstaates Lu.

25. Wie berührte der Tod seiner Mutter Konfuzius? (Vergleiche Prediger 9:5, 6; Johannes 11:33, 35.)

25 Seine finanzielle Lage verbesserte sich anscheinend so weit, daß er mit 19 Jahren heiraten konnte, und im darauffolgenden Jahr bekam er einen Sohn. Als er Mitte 20 war, starb jedoch seine Mutter. Das traf ihn offensichtlich sehr. Da er sich peinlich genau an die alten Traditionen hielt, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück und trauerte 27 Monate um seine Mutter an ihrem Grab. Auf diese Weise gab er den Chinesen ein klassisches Beispiel der Sohnesliebe.

Konfuzius, der Lehrer

26. Welche Tätigkeit nahm Konfuzius nach dem Tod seiner Mutter auf?

26 Danach verließ er seine Familie und begann sich als Wanderlehrer zu betätigen. Er lehrte unter anderem Musik, Poesie, Literatur, Staatsbürgerkunde und Ethik sowie Naturwissenschaft, das heißt das, was man damals darüber wußte. Er muß ziemlich gut bekannt geworden sein, denn die Zahl seiner Schüler wird einmal mit 3 000 angegeben.

27. Was ist über Konfuzius, den Lehrer, bekannt? (Vergleiche Matthäus 6:26, 28; 9:16, 17; Lukas 12:54-57; Johannes 4:35-38.)

27 Im Orient wird Konfuzius hauptsächlich als Meisterlehrer verehrt. In einer Inschrift auf der Gedenktafel seines Grabes in Küfu (Provinz Schantung) wird er schlicht und einfach „alter, allerheiligster Lehrer“ genannt. Ein westlicher Schriftsteller beschreibt Konfuzius’ Lehrmethode folgendermaßen: „Er wanderte von ‚Ort zu Ort, begleitet von denen, die sich seine Lebensanschauungen zu eigen gemacht hatten‘. Unternahmen sie eine größere Reise, so fuhr er mit einem Ochsenkarren. Der langsame Schritt des Tieres ermöglichte es seinen Schülern, zu Fuß zu folgen, und offensichtlich gaben die Ereignisse, die sich unterwegs abspielten, häufig Anlaß zu den Themen seiner Vorträge.“ Interessanterweise benutzte Jesus später — unabhängig davon — eine ähnliche Methode.

28. Was machte Konfuzius gemäß dem chinesischen Schriftsteller Lin Yutang zu einem besonders geehrten Lehrer?

28 Was Konfuzius zu einem besonders geehrten Lehrer unter den Orientalen machte, war sein Eifer, mit dem er sich selbst dem Studium widmete, besonders dem Studium der Geschichte und der Ethik. „Die Menschen waren nicht deswegen so sehr von Konfuzius eingenommen, weil er der weiseste Gelehrte war, sondern weil er damals der einzige war, der sie über die Bücher und die Gelehrsamkeit der Alten belehren konnte“, schrieb Lin Yutang. Er wies darauf hin, daß diese Liebe zur Gelehrsamkeit vielleicht der Hauptgrund war, weshalb der Konfuzianismus erfolgreicher war als andere Geistesrichtungen, und faßte die Sache wie folgt zusammen: „Die konfuzianischen Lehrer hatten etwas Bestimmtes, was sie lehren konnten, und die konfuzianischen Schüler hatten etwas Bestimmtes, was sie lernen konnten: historisches Wissen; wogegen die anderen Schulen nichts anderes zu bieten hatten als ihre eigenen Meinungen.“

„Wer mich kennt, das ist Gott“

29. (a) Welches Ziel strebte Konfuzius in Wirklichkeit an? (b) Wie versuchte er, sein Ziel zu erreichen, und was war das Ergebnis?

29 Trotz seines Erfolges als Lehrer betrachtete Konfuzius die Lehrtätigkeit nicht als seine Lebensaufgabe. Er glaubte, seine ethischen und moralischen Vorstellungen könnten die damalige unruhige Welt nur dann retten, wenn die Regierenden sie in die Tat umsetzten, indem sie ihn oder seine Schüler in ihrer Regierung beschäftigten. Deshalb verließ er mit einer kleinen Schar seiner engsten Jünger seinen Heimatstaat Lu und zog von Staat zu Staat in dem Bemühen, den weisen Herrscher zu finden, der seine Ideen von Regierung und Gesellschaftsordnung annehmen würde. Was war das Ergebnis? Shih-chi erklärt: „Schließlich verließ er Lu, wurde in Ch’i im Stich gelassen, aus Sung und Wei wurde er vertrieben, und unterwegs von Tschen nach Tsai war er Entbehrungen ausgesetzt.“ Nach 14jähriger Wanderschaft kehrte er enttäuscht, aber nicht gebrochen nach Lu zurück.

30. Welche literarischen Werke bilden die Grundlage des Konfuzianismus?

30 Während der restlichen Tage seines Lebens widmete er sich literarischen Arbeiten und dem Lehren. (Siehe Kasten, Seite 177.) Obwohl er bestimmt bedauerte, daß er nicht mehr beachtet wurde, sagte er: „Ich murre nicht wider Gott und grolle nicht den Menschen. Ich forsche hier unten, aber ich erschaue, was droben ist. Wer mich kennt, das ist Gott.“ Im Jahre 479 v. u. Z. starb er schließlich im Alter von 73 Jahren.

Der Kern der konfuzianischen Ideen

31. Was war nach der Lehre des Konfuzius die einzige Möglichkeit, die soziale Ordnung wiederherzustellen?

31 Konfuzius war zwar ein hervorragender Gelehrter und Lehrer, doch sein Einfluß beschränkte sich keineswegs auf die Gelehrtenkreise. Er war nicht nur darauf bedacht, Verhaltens- oder Sittenregeln zu lehren, sondern er wollte auch den Frieden und die Ordnung der damals durch die ständigen Kriege der Feudalherren völlig zerrissenen Gesellschaft wiederherstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, lehrte Konfuzius, daß jedermann, vom Kaiser bis zum Mann auf der Straße, lernen müsse, die ihm zugedachte Rolle in der Gesellschaft zu spielen und entsprechend zu leben.

32, 33. (a) Was ist unter dem konfuzianischen Begriff li zu verstehen? (b) Was würde gemäß Konfuzius erreicht, wenn li ausgeübt würde?

32 Im Konfuzianismus ist dieser Begriff als li bekannt, und man versteht darunter Anstand, Höflichkeit, Ordnung und im erweiterten Sinn Riten und Zeremonien sowie Ehrerbietung. Als Antwort auf die Frage: „Was ist dieses große li?“, gab Konfuzius folgende Erklärung:

„Von allem, wonach die Menschen leben, ist li das größte. Ohne li wissen wir nicht, wie wir die Geister des Universums gebührend verehren, Könige und Minister, Regierende und Regierte sowie Alte und Junge richtig einstufen sollen oder wie wir die moralischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Brüdern festlegen oder die verschiedenen Verwandtschaftsgrade unterscheiden sollen. Aus diesem Grund hält ein Edler li so hoch in Ehren.“

33 li ist daher das rechte Verhalten, das ein Edler (chün-tse, manchmal mit „vornehmer Mensch“ übersetzt) in all seinen gesellschaftlichen Beziehungen bekundet. Wenn sich jeder bemüht, das zu tun, „kommt alles in Ordnung, und zwar in der Familie, im Staat und in der Welt“, sagte Konfuzius, und das ist der Fall, wenn nach dem Tao (dem Weg des Himmels) gehandelt wird. Doch wie äußert sich li? Das bringt uns zu einem anderen Zentralbegriff des Konfuzianismus — jen: Menschlichkeit oder Menschengüte.

34. Was ist unter dem konfuzianischen Begriff jen zu verstehen, und inwiefern könnten dadurch soziale Mißstände beseitigt werden?

34 li betont Enthaltsamkeit mit Hilfe äußerer Regeln, wogegen jen mit der menschlichen Natur oder der inneren Person zu tun hat. Nach der konfuzianischen Vorstellung — wie sie besonders von Meng Tzu (Mencius), dem bedeutendsten Schüler des Konfuzius, vertreten wurde — ist die menschliche Natur grundlegend gut. Folglich könnten alle sozialen Mißstände durch Selbsterziehung beseitigt werden, und damit beginnt man durch Bildung und Wissen. Im Hauptkapitel des Ta-hsüeh — Große Lehre heißt es:

„Wenn wir der Erkenntniss höchsten Grad erreicht haben, dann sind unsere Intentionen (innersten Gedanken) wahr und lauter. ... Wenn das Herz bieder und rechtschaffen ist, dann wird man sich selbst, sein ganzes Ich vervollkommnen und veredeln. Wer sich selbst vervollkommnet und veredelt hat, der wird dann auch seiner Familie vollendete Harmonie zu geben wissen. Wer seiner Familie vollkommene Harmonie zu geben versteht, der wird dann auch (event.) eine weise Regierung in seinem Lande führen. Wenn eine weise Regierung im Lande geführt wird, so wird dann auch im Weltenreiche der ewige Frieden (Tugend und Glückseligkeit) herrschen. ... Vom Kaiser bis hinab zum geringsten Unterthan ist aber das Vervollkommnen seines Selbst das für alle gemeinsame und darum das die wesentliche Grundlage bildende Erforderniss“ (Ta-Hio — Die erhabene Wissenschaft [aus dem Chinesischen von Reinhold von Plaenckner, 1875]).

35. (a) Wie können die Grundsätze li und jen zusammengefaßt werden? (b) Wie spiegelt sich das alles in der chinesischen Lebensanschauung wider?

35 Wir sehen also, daß nach Konfuzius das Beachten des li die Menschen befähigt, sich in jeder Situation richtig zu verhalten, und die Pflege des jen wird bewirken, daß sie zu allen anderen gut sind. Das Ergebnis ist dann theoretisch Frieden und Harmonie in der Gesellschaft. Das konfuzianische Ideal, das auf den Grundsätzen li und jen beruht, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden:

„Daß der Vater mild ist und der Sohn ehrfürchtig, der ältere Bruder freundlich und der jüngere fügsam, der Gatte gerecht und die Gattin gehorsam, das Alter gütig und die Jugend folgsam, der Herrscher liebevoll und der Diener gewissenhaft.“

All das erklärt zum Teil, warum die meisten Chinesen und auch andere Orientalen so großen Nachdruck auf die Familienbande legen sowie auf Fleiß, Bildung und darauf, daß jeder einzelne seinen Platz kennt und entsprechend handelt. „Komme, was kommen mag“ — diese konfuzianische Auffassung ist dem chinesischen Bewußtsein im Laufe der Jahrhunderte tief eingeprägt worden.

Der Konfuzianismus wird Staatskult

36. Wie wurde der Konfuzianismus zum Staatskult?

36 Mit dem Aufkommen des Konfuzianismus endete die Periode der „Hundert Schulen“. Die Kaiser der Handynastie fanden in der konfuzianischen Lehre von der Loyalität gegenüber dem Herrscher genau die Formel, die sie benötigten, um die Macht ihres Thrones zu festigen. Unter Kaiser Wu Ti, den wir bereits in Verbindung mit dem Taoismus erwähnt haben, wurde der Konfuzianismus zum Staatskult erhoben. Nur wer in den konfuzianischen Klassikern bewandert war, wurde als Regierungsbeamter ausgewählt, und wer sich eine Einstellung in den Staatsdienst erhoffte, mußte im ganzen Land Prüfungen bestehen, denen die konfuzianischen Klassiker zugrunde lagen. Konfuzianische Bräuche und Rituale wurden zur Religion des Herrscherhauses.

37. (a) Wie wurde der Konfuzianismus eine Religion? (b) Warum ist der Konfuzianismus in Wirklichkeit mehr als nur eine Philosophie?

37 Dieser Wechsel trug viel dazu bei, daß Konfuzius in der chinesischen Gesellschaft zu einer höheren Stellung aufrückte. Die Kaiser der Handynastie begannen mit der Tradition, am Grab des Konfuzius Opfer darzubringen. Man verlieh ihm Ehrentitel. Im Jahre 630 u. Z. ordnete dann T’ai Tsung, der Kaiser der T’angdynastie, an, daß in ganz China, in jeder Provinz und jedem Fürstentum, ein Staatstempel zu Ehren des Konfuzius errichtet werden sollte und ihm regelmäßig Opfer dargebracht werden müßten. Für jeden nützlichen Zweck wurde Konfuzius in den Rang eines Gottes erhoben, und der Konfuzianismus wurde eine Religion, die vom Taoismus und vom Buddhismus kaum noch zu unterscheiden war. (Siehe Kasten, Seite 175.)

Das Vermächtnis der Weisheit des Ostens

38. (a) Was ist mit dem Taoismus und dem Konfuzianismus seit 1911 geschehen? (b) Doch was trifft auf die grundlegenden Vorstellungen dieser Religionen immer noch zu?

38 Seit dem Ende der dynastischen Herrschaft in China im Jahre 1911 sind der Konfuzianismus und der Taoismus schon heftiger Kritik, ja sogar Verfolgungen ausgesetzt gewesen. Der Taoismus ist wegen seines magischen und abergläubischen Brauchtums in Mißkredit geraten, dem Konfuzianismus sind feudalistische Tendenzen vorgeworfen worden und die Förderung einer sklavischen Gesinnung, die die Menschen, vor allem die Frauen, unterwürfig hält. Doch trotz dieser offiziellen Kritik sind die grundlegenden Vorstellungen dieser Religionen im Geist der Chinesen so tief verankert, daß immer noch viele davon beherrscht werden.

39. Was berichtete eine Zeitung über abergläubische religiöse Bräuche in China?

39 Die kanadische Zeitung Globe and Mail berichtete zum Beispiel im Jahre 1987 unter der Überschrift „Chinesische Riten in Beijing selten; in Küstengebieten aber noch florierend“, daß nach fast 40jähriger atheistischer Herrschaft in China Begräbnisfeierlichkeiten, Tempeldienste und viele abergläubische Bräuche in Landgebieten immer noch gang und gäbe sind. „In den meisten Dörfern gibt es einen feng-schui — gewöhnlich ein älterer Einwohner —, der die Kräfte des Windes (feng) und des Wassers (schui) zu deuten weiß, um die günstigsten örtlichen Bedingungen für irgend etwas — vom Ahnengrab bis zu einem neuen Haus oder einer Wohnzimmereinrichtung — zu erkunden“, hieß es in dem Bericht.

40. Welche religiösen Bräuche sind auf Taiwan zu finden?

40 Wo immer die traditionelle chinesische Kultur erhalten geblieben ist, sind der Taoismus und der Konfuzianismus zu finden. Auf Taiwan amtiert ein Mann, der ein Nachkomme Chang Tao-lings zu sein behauptet, als „Himmelsmeister“, der ermächtigt ist, taoistische Priester (tao shi) zu ordinieren. Die als „Heilige Himmelsmutter“ bekannte Göttin Matsu wird als Schutzherrin der Insel sowie der Seeleute und Fischer verehrt. Das einfache Volk ist vorwiegend damit beschäftigt, den Geistern der Flüsse, Berge und Sterne, den Schutzgöttern aller Berufsgruppen sowie den Göttern der Gesundheit, des Glücks und des Reichtums Opfer darzubringen. *

41. Wie wird der Konfuzianismus als Religion heute noch praktiziert?

41 Und wie verhält es sich mit dem Konfuzianismus? Als Religion spielt er höchstens noch die Rolle eines Nationaldenkmals. In China unterhält der Staat in Küfu, dem Geburtsort des Konfuzius, den Konfuziustempel und den Grundbesitz seiner Familie als Touristenattraktion. Dort werden laut der Zeitschrift China Reconstructs „Neuinszenierungen eines Ritus zur Verehrung des Konfuzius“ vorgeführt, und in Singapur, Taiwan, Hongkong und an anderen Orten in Ostasien feiert man immer noch den Geburtstag des Konfuzius.

42. Wieso sind der Taoismus und der Konfuzianismus keine Hilfe auf der Suche nach dem wahren Gott?

42 Der Konfuzianismus und der Taoismus sind Beispiele, die zeigen, daß ein auf menschlicher Weisheit und menschlichen Überlegungen beruhendes System — ganz gleich, wie vernünftig und wie gut gemeint es ist — letztendlich keine Hilfe ist auf der Suche nach dem wahren Gott. Warum nicht? Weil ein wichtiges Element außer acht gelassen wird: der Wille und die Anforderungen eines persönlichen Gottes. Der Konfuzianismus wendet sich an die menschliche Natur als motivierende Kraft, Gutes zu tun, und der Taoismus wendet sich an die Natur selbst. Doch das ist ein unangebrachtes Vertrauen, weil es lediglich zur Verehrung erschaffener Dinge führt, nicht aber zur Anbetung des Schöpfers (Psalm 62:9; 146:3, 4; Jeremia 17:5).

43. Inwiefern sind die religiösen Traditionen der Chinesen für sie als Gesamtheit ein Hindernis auf der Suche nach dem wahren Gott?

43 Andererseits sind die Traditionen des Ahnenkults und der Götterverehrung, die Ehrfurcht vor einem kosmischen Himmel und die Verehrung von Naturgeistern sowie die damit verbundenen Bräuche und Rituale in der Denkweise der Chinesen so tief eingewurzelt, daß sie als die unausgesprochene Wahrheit anerkannt werden. Oft ist es sehr schwierig, mit einem Chinesen über einen persönlichen Gott oder Schöpfer zu sprechen, weil ihm der Begriff völlig fremd ist (Römer 1:20-25).

44. (a) Wie reagieren denkende Menschen auf die Wunder, die sie in der Natur sehen? (b) Wozu werden wir aufgefordert?

44 Niemand wird bestreiten wollen, daß die Natur voller großartiger Wunder ist und von erstaunlicher Weisheit zeugt, ja daß wir Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten, wie dem Verstand und dem Gewissen, ausgerüstet sind. Wie aber in dem Kapitel über den Buddhismus gezeigt wurde, haben die Wunder, die wir in der Natur sehen, denkende Menschen zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß es einen Bildner oder Schöpfer geben muß. (Siehe Seite 151.) Wäre es angesichts dessen nicht vernünftig, herausfinden zu wollen, wer der Schöpfer ist? Der Schöpfer fordert uns sogar dazu auf mit den Worten: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht. Wer hat diese Dinge erschaffen? Er ist es, der ihr Heer selbst der Zahl nach herausführt, der sie alle sogar mit Namen ruft“ (Jesaja 40:26). Wenn wir dieser Aufforderung nachkommen, werden wir nicht nur erfahren, wer der Schöpfer ist, nämlich Jehova Gott, sondern auch, was er für unsere Zukunft bereithält.

45. Welche andere östliche Religion werden wir als nächstes behandeln?

45 Neben dem Buddhismus, dem Konfuzianismus und dem Taoismus, die im religiösen Leben der Orientalen eine solch wichtige Rolle spielen, gibt es aber noch eine andere Religion: den Schintoismus, die Religion Japans. Wodurch unterscheidet sich diese Religion? Woher stammt sie? Hat sie die Menschen zum wahren Gott geführt? Diese Fragen werden im nächsten Kapitel behandelt.

[Fußnoten]

^ Abs. 15 Lin Yutangs Übersetzung dieser Passage lautet: „Da er im Einklang mit dem Tao ist, ist er ewig, und sein ganzes Leben ist von Unheil bewahrt.“

^ Abs. 23 Das Wort „Konfuzius“ ist die latinisierte Form des chinesischen Wortes K’ung Fu Tzu, „Meister K’ung“. Jesuitenpriester, die im 16. Jahrhundert nach China kamen, prägten den latinisierten Namen, als sie dem Papst von Rom empfahlen, Konfuzius zu einem „Heiligen“ der römisch-katholischen Kirche zu erklären.

^ Abs. 40 Eine taoistische Gruppe auf Taiwan, T’ien Tao (Himmlischer Weg) genannt, behauptet, eine Verschmelzung von fünf Weltreligionen zu sein — von Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Christentum und Islam.

[Studienfragen]

[Kasten auf Seite 175]

Konfuzianismus — Philosophie oder Religion?

Da Konfuzius Gott nicht oft erwähnte, betrachten viele den Konfuzianismus lediglich als eine Philosophie, nicht als eine Religion. Doch das, was Konfuzius sagte und tat, ließ erkennen, daß er religiös war. Das zeigte sich in zweifacher Hinsicht: Erstens hatte er eine ehrfurchtsvolle Scheu vor einer höchsten, kosmischen geistigen Kraft — von den Chinesen T’ien oder Himmel genannt —, die er für die Quelle aller Tugend und moralischen Güte hielt und deren Wille nach seiner Auffassung alles lenkt. Zweitens legte er großen Wert auf die peinlich genaue Einhaltung der Riten und Zeremonien in Verbindung mit der Verehrung des Himmels und der verstorbenen Ahnen.

Konfuzius hat diese Auffassungen zwar nie als eine Art Religion vertreten, doch sind sie für unzählige Chinesen zu einer Religion geworden.

[Kasten/Bilder auf Seite 177]

Konfuzianismus — seine Vier Bücher und Fünf Klassiker

Die Vier Bücher

1. Große Lehre (Ta-hsüeh), die Grundlage für die Erziehung eines Edlen, das erste von den Schülern im alten China benutzte Lehrbuch

2. Rechte Mitte (Chung-yung), eine Abhandlung über die Bildung des menschlichen Charakters durch Maßhalten

3. Analekten (Lun-yü), eine Sammlung von Aussprüchen des Konfuzius, die Hauptquelle konfuzianischen Gedankenguts

4. Mencius (Meng Tzu), Schriften und Aussprüche Meng Tzus (Mencius), des bedeutendsten Schülers des Konfuzius

Die Fünf Klassiker

1. Buch der Lieder (Shi-ching), 305 Gedichte, die ein Bild des täglichen Lebens zu Beginn der Choudynastie vermitteln (1000—600 v. u. Z.)

2. Buch der Geschichten (Shu-ching), behandelt 17 Jahrhunderte chinesische Geschichte, beginnend mit der Shangdynastie (1766—1122 v. u. Z.)

3. Buch der Wandlungen (I-ching), ein Wahrsagebuch, das auf Interpretationen der 64 möglichen Kombinationen von sechs vollständigen oder unvollständigen Zeilen zurückgeht

4. Buch der Sitte (Li-chi), eine Sammlung von Regeln der Zeremonien und Riten

5. Frühlings- und Herbst-Annalen (Ch’un-ch’iu), eine Chronik des Staates Lu, der Heimat des Konfuzius, die die Zeit von 721—478 v. u. Z. umfaßt

[Bilder]

Oben: Die Fünf Klassiker Links: Ausschnitt aus der Großen Lehre, einem der Vier Bücher, das auf Seite 180, 181 angeführt wird

[Bild auf Seite 163]

Tao, „der Weg“, den der Mensch gehen sollte

[Bild auf Seite 165]

Laotse, der Philosoph des Taoismus, auf dem Rücken eines Büffels

[Bild auf Seite 166]

Taoistischer Tempel der Matsu, der „Heiligen Himmelsmutter“, auf Taiwan

[Bild auf Seite 171]

Verschwommene Berge, stille Wasser, sich im Wind wiegende Bäume und zurückgezogen lebende Gelehrte — die beliebten Motive der chinesischen Landschaftsmalerei — spiegeln das taoistische Ideal eines Lebens in Harmonie mit der Natur wider

[Bilder auf Seite 173]

Links: Antike taoistische Skulptur des Gottes des langen Lebens mit den „Acht Unsterblichen“

Rechts: Taoistischer Priester in vollem Ornat bei einer Bestattungszeremonie

[Bild auf Seite 179]

Konfuzius, Chinas bedeutendster Weiser, wird als Lehrer der Moral und Ethik verehrt

[Bild auf Seite 181]

Feierlichkeiten in Sung Kyun Kwan, einem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Bildungszentrum in Seoul (Korea), durch die konfuzianische Riten aufrechterhalten werden

[Bilder auf Seite 182]

Der typische Chinese, ob Buddhist, Taoist oder Konfuzianer, huldigt (von links nach rechts) zu Hause den Ahnen, betet den Gott des Reichtums an und bringt an Festtagen in Tempeln Opfer dar